Interkulturelle Kompetenz
Herausforderung für unsere Gesellschaft
Verhältnis zur Herrschaft
- Ein Präsident, der an roten Ampeln hält!
- L'état c'est moi!
- "Loser" oder Held?
- Unausgefülltes Machtvakuum
Sind die Herrschenden vom Rest der Bevölkerung weit entfernt? Gesteht man ihnen Privilegien zu, die andere nicht haben? Oder verlangt man, dass man dem Chef nicht ansieht, dass er Chef ist?
Am Tag seiner Amtsübernahme fuhr der neue französische Präsident François Hollande zum Élysée-Palast. Als er dabei aber seinen Fahrer anwies, rote Ampeln nicht einfach zu überfahren, wie das bei einer solchen Fahrt des Staatspräsidenten üblich wäre, sondern tatsächlich an jeder zu halten und auf grün zu warten, war das eine Sensation.
Ein Präsident, der an roten Ampeln hält!
Gipfel der Europäischen
Volkspartei, Brüssel, Mai 2014
Lizenz: European People's Party,
EPP Summit, Brussels,
May 2014 (14280488091) (2),
CC BY 2.0
François Hollande,
Nantes 2012
Lizenz: Jean-Marc Ayrault,
François Hollande
(Journées de Nantes 2012),
CC BY 2.0
Das Zeichen, das Hollande damit setzen wollte, wurde sofort verstanden. Hier wollte sich jemand vom Regierungsstil seines Vorgängers deutlich absetzen. Die französischen Kommentatoren waren denn auch außer sich:
"Ein Präsident, der an roten Ampeln hält! So etwas gab es noch nie!" ⋅1⋅
Diese Begebenheit, die in Frankreich großes Aufsehen erregte, würde in Deutschland wohl kaum eine ähnliche Wirkung hervorrufen. Ganz im Gegenteil: In Deutschland erwartet man auch von der Kanzlerin, dass sie sich an die üblichen Spielregeln hält. Dass der Wagen Angela Merkels an einer roten Ampel anhält, ist für Deutsche eigentlich selbstverständlich. So rügte die Mitteldeutsche Zeitung lediglich das Fehlen einer "grünen Welle" in Halle, als eine rote Ampel am dortigen Franckeplatz den Zeitplan der Kanzlerin völlig über den Haufen warf. Der Umstand, dass Merkels Wagen an dieser Ampel überhaupt gehalten hatte, war für die Zeitung offensichtlich selbstverständlich und keiner besonderen Bemerkung wert. ⋅2⋅
L'état c'est moi!
Das Schloss von Versailles
Lizenz: Marc Vassal, Versailles chateau, CC BY-SA 3.0
In unterschiedlichen Kulturen haben sich ganz unterschiedliche Verhältnisse zu Macht und Herrschaft entwickelt. Für eine ganze Epoche hat der französische Sonnenkönig Ludwig XIV. das Bild des absolutistischen Herrschers geprägt. Der ihm zugeschriebene Satz "L'état c'est moi!" - "Der Staat bin ich" - bringt dieses Gefühl von Herrschaft zum Ausdruck.
Dieser Herrschaftsstil drückte sich auch in repräsentativen Bauwerken aus. Jeder europäische Herrscher, der etwas auf sich hielt, versuchte im Barock dem durch den Bau der Schlossanlage von Versailles gesetzten Maßstab nachzueifern.
Auch nach der Französischen Revolution haben die Repräsentanten des Französischen Staates überkommene Symbole der Macht beibehalten. Etwas verallgemeinernd kann man durchaus sagen, dass den französischen Präsidenten auch heute noch so etwas wie eine königliche Aura umgibt. Man gesteht ihm Privilegien zu, die ihm allein aufgrund seiner Stellung für französisches Empfinden eben zukommen.
In Deutschland haben sich die Dinge - vor allem auch aufgrund der Erfahrung der nationalsozialistischen Herrschaft - ganz anders entwickelt. Eine deutsche Führungspersönlichkeit soll sich möglichst als Gleicher unter Gleichen geben. Persönliche Vorteile daraus zu ziehen, dass man ein bestimmtes Amt bekleidet, ist in Deutschland verpönt. Über so manche Vermengung von dienstlicher und privater Sphäre - etwa durch die Nutzung der "Fahrbereitschaft des Deutschen Bundestages" für private Zwecke -, ist schon so mancher Politiker gestolpert.
"Loser" oder Held?
Der russische Präsident Wladimir Putin und
der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan
während eines Treffens in Baku, am 13 Juni 2015
Lizenz: Kremlin.ru,
Vladimir Putin and Recep Tayyip Erdogan (2015-06-13) 5, CC BY 4.0
Aufgrund solcher unterschiedlicher Zugänge zu Herrschaft und Macht kommt es auch zu völlig anderen Beurteilungen von jeweiligen HerrscherpersönLichkeiten.
In Deutschland gilt etwa Michael Gorbatschow als großer Politiker. In Russland hingegen genießt er kaum Ansehen. Er hat für die meisten Russen überhaupt nichts Heldenhaftes, sondern ist der derjenige, der dem Land seine Bedeutung genommen hat. In Russland aber erwartet man von einem Herrscher, dass er stark ist und seine Stärke auch zeigt.
Nicht umsonst wird Wladimir Putin in Russland ganz anders bewertet, als in der westlichen Welt. In Russland gilt er gemeinhin als derjenige, der dem Land wieder zu politischer Bedeutung verhilft. Dass so jemand auch entsprechend durchgreift, nicht kleinlich mit Gegnern umgeht und seine Macht auch zeigt, wird ihm nicht nur zugestanden, sondern von ihm regelrecht erwartet.
Ganz ähnlich verhält es sich in der Türkei. Während man in Deutschland mit völligem Unverständnis auf den pompösen neuen Regierungssitz des türkischen Präsidenten Erdoğan reagiert, entspricht dieses Zurschaustellen der Macht letztlich genau den Erwartungen, die man offenbar in diesem Kulturkreis mehrheitlich an eine Herrscherpersönlichkeit hat. Hier spielen ähnliche Vorstellungen eine Rolle, wie vor Zeiten in Europa im Blick auf den französischen König und seine Residenz in Versailles. Das mag Deutschen anachronistisch erscheinen, hängt aber letztlich nur damit zusammen, dass unsere Empfindungen mittlerweile anders geprägt sind als die großer Teile der türkischen Bevölkerung. Auf dem Hintergrund uns mittlerweile vertrauter Kulturstandards ist die Begeisterung, die viele Türken für Erdoğan haben, deshalb auch völlig unbegreiflich.
Unausgefülltes Machtvakuum
Wer solche Zusammenhänge nicht berücksichtigt, kann ganz schnell Schiffbruch erleiden - in der großen Politik wie auch im persönlichen Umfeld. Denn solch unterschiedliche Erwartungen an einen Mächtigen prägen schließlich auch die verschiedenen Milieus in unserer Umgebung.
Klassenzimmer in Deutschland
Lizenz: capl@washjeff.edu,
Klassenzimmer "Gymnasium", Creative Commons 3.0 US License
Während eines Praktikums noch im Rahmen des Studiums musste ich dies am eigenen Leib erfahren. Es war Anfang der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, als ich eine Vertretungsstunde in einer Schulklasse zu halten hatte. Normalerweise unterrichtete hier der dortige Ortspfarrer. Er hatte wohl eine ganz andere Vorstellung von Unterricht - und damit auch von der Ausübung der Macht eines Lehrers - als ich.
Als ich nun - auch nur wenige Jahre älter als die Schüler - versuchte, einen auf "guten Kumpel" zu machen, war das Ergebnis, dass nach zehn Minuten die Rektorin der Schule im Klassenzimmer stand, um nach dem Rechten zu sehen. Der Lärm, der aus dem Zimmer dröhnte, war offenbar selbst im nahe gelegenen Rektorat nicht zu überhören.
Die Schüler in dieser Klasse waren offensichtlich ein starkes Machtgefälle gewohnt. Der Pfarrer besetzte als Lehrer eine recht hohe Machtposition. Sie erlebten ihn als absolute Respektperson. Diese Rollenverteilung waren sie so gewohnt, dass sie mit der "neuen Freiheit" absolut nicht umgehen konnten. Das entstandene Machtvakuum ließ sich nicht wirklich füllen. In bestimmten Kulturkreisen - wie etwa in diesem spezifischen Kulturkreis Schulklasse - wird von "Herrschenden" ein ganz bestimmtes Auftreten vorausgesetzt. Dieses Auftreten wird dann aber auch erwartet, um sie als Herrschende überhaupt respektieren zu können.
Die gleichen Erfahrungen dürften deutsche Manager machen, wenn sie in einem russischen Unternehmen nach mitteleuropäischem Muster ihr Chef-Sein nicht überbetonen möchten. Mit der Rolle, gleichberechtigte Mitarbeiter in einem Team ohne große Hierarchie zu sein, wären viele russische Beschäftigte wohl völlig überfordert. Russland ist fast durchgängig ein Kulturraum, der von großem Machtgefälle geprägt ist. Das hat das Empfinden der Menschen in langen Jahrzehnten so geprägt, dass man vom Chef am Ende auch ein solches Auftreten erwartet.
Wichtig ist, dass es hier nicht um richtiges oder falsches Verständnis von Macht geht. Ich muss zunächst einmal festhalten, dass das Verhältnis, das ein Mensch zu Herrschaft und Macht hat, letztlich ganz einfach etwas über seinen Standpunkt im kulturellen Raum deutlich macht, etwas über seine kulturelle Orientierung aussagt.
Dr. Jörg Sieger
Anmerkungen