Interkulturelle Kompetenz

Herausforderung für unsere Gesellschaft


Weiter-Button Zurück-Button Wachstumsphantasien

Wir brauchen Wachstum. Unsere Wirtschaft braucht es. Ohne Wachstum keinen Wohlstand. Ohne Wachstum keine neuen Arbeitsplätze. Wenn es kein Wachstum gibt, droht Rezession, Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg und Absturz in die Armut.

Als wären es nicht hinterfragbare Dogmen

Diese Sätze haben wir schon so oft gehört, dass sie nur ganz selten hinterfragt werden. Sie gehören zu den Dogmen unseres Wirtschaftssystems, zu Axiomen, die weder in Frage gestellt werden dürfen, noch ernsthaft in Frage gestellt werden.

Dabei weiß jedes Kind, dass es beständiges Wachstum nicht gibt, dass unaufhörliches Wachstum nicht einmal besonders gut sein kann.

Was ungebändigtes Wachstum letztlich bedeutet, können wir bereits tagtäglich auf unseren Autobahnen erleben: Grenzenloses Wachstum der Mobilität, absolute Mobilität - am Ende bedeutet sie völligen Stillstand.

Und in der Medizin weiß man auch darum, was unkontrolliertes Wachstum von Zellen am Ende bedeutet. Solche Zellwucherungen nennt man "Krebs" und in immer noch viel zu vielen Fällen führen sie unweigerlich zum Tod.

Letztlich wissen das selbstverständlich auch alle diejenigen, die in der ?ffentlichkeit und vor laufenden Kameras immer wieder das Wachstum beschwören. Jeder und jede, die klar denken können, sind sich im Klaren darüber, dass jedes Wachstum irgendwann einmal ein Ende hat. Aber keiner der hochqualifizierten Wirtschaftstheoretiker an unseren Hochschulen hat bislang ein anderes Konzept entwickelt und eine Alternative zu einem Wirtschaftssystem gefunden, das allein auf stetigem Wachstum basiert.

Griechisch-abendländische Vorstellungen

Das hat tiefreichende Gründe. Dieses Denken ist Menschen in unserem Kulturkreis ganz tief eingewurzelt. Es wurde hier seit jeher so weitergegeben. In unserem von der griechischen Philosophie geprägten Denken bedeutet erfolgreich zu wirtschaften seit Menschen Gedenken, dass ich am Ende Gewinn gemacht habe. Wer erfolgreich wirtschaftet, der hat unterm Strich mehr übrig, als er anfangs hineingesteckt hat.

Wenn ich nun alleine von mir ausgehe, dann bedeutet dies - positiv betrachtet -, dass sich Anstrengungen lohnen. Wer sich ins Zeug legt, der kann davon ausgehen, dass er seinen Wohlstand vergrößert und sein Leben dadurch letztlich erleichtert.

Der Umkehrschluss aber, dass sich dann alle lediglich anstrengen müssen, um am Ende in größtmöglichem Wohlstand zu leben, der trügt. Wer so denkt und solches Denken propagiert, vergisst nämlich - oder unterschlägt - eine ganz entscheidende Voraussetzung, die diese Entwicklung unmöglich macht: Die Ressourcen, die wir vorfinden, sind endlich. Es gibt keinen unerschöpflichen Vorrat, der immer wieder neu gewonnen werden könnte. Wenn er einmal verteilt ist, ist für weitere Interessenten schlicht und ergreifend nichts mehr übrig.

Wenn ich mir folglich von einem Kuchen ein möglichst großes Stück sichere, nehme ich dabei in Kauf, dass für andere lediglich kleinere Stücke übrig bleiben. Wenn dann aber alle Stücke verteilt sind und mein Anteil dennoch weiter wachsen soll, geht das einzig um den Preis, dass der Anteil anderer verkleinert wird.

Wirtschaft kann töten

Unser Wirtschaften funktioniert genau so. Wir sprechen dabei von Verdrängungswettbewerb. Das bedeutet aber letztlich, dass jedes Wirtschaften, das auf Wachstum basiert, stillschweigend akzeptiert, dass nur einige von diesem Wachstum profitieren. Das ganze System basiert darauf, dass einige zwar gewinnen, viele andere aber verlieren.

Papst Franziskus

Papst Franziskus, 2015

Lizenz: Casa Rosada, Franciscus in 2015, CC BY-SA 2.0

Global betrachtet bedeutet dies, dass die sogenannte "westliche Welt" - also wir und unsere Gesellschaft - nur deshalb zu den Gewinnern gehört, den größten Teil der Weltressourcen abschöpfen kann, weil die große Masse der Weltbevölkerung weitaus weniger braucht, sich weniger leisten kann oder letztlich sogar noch daran gehindert wird, mehr zu beanspruchen.

Wohin diese Wachstumsphantasien letztlich führen, machte 2016 der "Oxfam-Bericht" deutlich: Er erregte Aufsehen mit der Nachricht, dass mittlerweile lediglich 62 Menschen auf dieser Welt genauso viel besitzen, wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammengenommen. ⋅1⋅

Die Folgen dieser Immer größer werdenden sozialen Ungerechtigkeit liegen auf der Hand: Ganze Regionen, weite Teile dieser Erde bieten Menschen keinerlei Perspektive mehr - neben Krieg und Umweltkatastrophen die Fluchtursache schlechthin.

Im Jahr 2013 hat Papst Franziskus in seinem Schreiben "Evangelii Gaudium" dieses Phänomen präzise auf den Punkt gebracht.

"Diese Wirtschaft tötet", ⋅2⋅

lautet sein düsteres Fazit.

Für diesen Satz wurde der Papst heftig kritisiert. Er spräche von Dingen, die er nicht verstehe. Ja, er stelle sich darüber hinaus undifferenziert gegen die gesamte Tradition unserer Gesellschaft - einer Gesellschaft, die immerhin aus christlichen Werten erwachsen sei und auf ihnen fuße.

Biblisch-orientalisches Denken

Dass unser Wirtschaftssystem sich auf christliche Grundüberzeugungen zurückführen lasse, davon kann allerdings beim besten Willen nicht die Rede sein. Der Grundsatz, dass erfolgreich zu wirtschaften bedeute, dass ich Gewinn gemacht habe, ist im Grunde diametral entgegengesetzt zu biblisch fundiertem christlichem Denken.

Für den Menschen der Bibel hat Erfolg nämlich nichts mit Gewinn zu tun. Erfolgreich gewirtschaftet zu haben heißt für die Bibel immer, dass am Ende alle versorgt sind ⋅3⋅.

Solch ein Denken hat sich auf dem Hintergrund einer Gesellschaft entwickelt, die ganz stark von den Strukturen der klassischen Großfamilie geprägt war. Eine Mutter in einer Familie etwa konnte in ihrem Wirtschaften nie allein darauf aus sein, dass in der Haushaltskasse am Ende eines Monates mehr übrig war, als im Monat zuvor. Wenn die Kinder dabei hungrig geblieben waren, konnte sie mit dem Ergebnis kaum zufrieden sein. In diesem familiären Umfeld war klar, dass die Zielrichtung nie die Maximierung irgendeines Gewinnes sein konnte. Hier ging es immer darum, dass am Ende alle versorgt waren. Dieses Empfinden prägte letztlich das Denken der ganzen Gesellschaft.

Wir müssen dieses Denken von Neuem lernen. Wer nämlich weiter auf Wachstum setzt, nimmt in Kauf, dass ein Großteil der Menschen für unseren Wohlstand sterben muss, dass immer mehr Kriege um die wertvollen Ressourcen geführt werden und die Massen versuchen werden, sich am Ende mit Gewalt zu holen, was ihnen heute noch vorenthalten wird.

Die Menschheitsfamilie ist heute so eng zusammengerückt, dass es letztlich nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder wir ziehen Zäune und bauen Mauern und versuchen uns so voneinander abzuschotten, dass wir nicht mehr sehen, wie jenseits der Mauern gestorben wird. Oder wir begreifen endlich - entsprechend biblischem Denken - dass wir eine einzige große Familie sind. In einer Familie aber kann es auf Dauer nicht angehen, dass einzelne sich mehr unter den Nagel reißen als andere.

Für uns wird das - so schwer es uns auch fallen wird - bedeuten, dass wir vom hohen Ross herabsteigen müssen. Wir werden dieses Niveau - ganz egal ob wir freiwillig zurückstecken oder am Ende dazu gezwungen werden - sowieso auf Dauer nicht halten können. Fangen wir endlich damit an, die Alternativen durchzudenken und Strategien zu entwickeln. Machen wir uns klar, dass wir letztlich nur dann Erfolg haben werden, wenn am Ende alle versorgt sind.

Dr. Jörg Sieger

Weiter-Button Zurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: Pressemitteilung vom 18. Januar 2016: Weltwirtschaftsforum Davos - 62 Menschen besitzen so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung = https://www.oxfam.de/presse/pressemit­teilungen/2016-01-18-62-menschen-besitzen-so-viel-haelfte-weltbevoelkerung (abgerufen am 6.1.2017). Zur Anmerkung Button

2 Vgl.: Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium des Heiligen Vaters Papst Franziskus an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die Christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute = http://w2.vatican.va/content/frances­co/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html, 53. Zur Anmerkung Button

3 Im Hebräischen etwa gibt es gar kein eigenes Wort für "Erfolg". Begriffe, mit denen man das Phänomen umschreibt, haben in der Regel eine Aura von Tüchtigkeit oder auch von "Glück Haben", womit in der Vorstellung des Hebräers immer auch Gott und seine Führung in den Blick gerät. Das hebräische Wort שׂכל, [sakal] das unserem Zusammenhang noch recht nahe kommt, hat in seinem Bedeutungshorizont auch die Aspekte von "bedenken", "betrachten" und "gedeihlich ausrichten". Vor allem letztere Bedeutung macht deutlich, dass immer auch die Gemeinschaft im Blick ist. Zur Anmerkung Button