Interkulturelle Kompetenz

Herausforderung für unsere Gesellschaft


Weiter-Button Zurück-Button "Low" und "High Context"

Manche von Ihnen werden sich mit mir noch an Fahrten durch Frankreich in den 70ern oder frühen 80er-Jahren erinnern. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal in Burgund gewesen bin und als Beifahrer immer wieder aussteigen musste. Man konnte viele Schilder nämlich nur dann lesen, wenn man aus einer bestimmten Richtung auf das Schild zufuhr. Kam man von der anderen Seite, sah man was darauf stand nur, wenn man um das Schild herumging.

"high-context" am Beispiel Frankreich

historisches Schild in Frankreich

Altes Verkehrsschild in Ploudamezeau, Frankreich, am 25.7.2014

Lizenz: Marcel Musil, Ploudamezeau, France 2014, CC BY-NC 2.0

Damals haben wir darüber gespottet, dass Schilder in Frankreich vor allem für diejenigen aufgestellt würden, die sowieso wüssten, was darauf steht. Deshalb musste man sie ja auch nicht wirklich lesen können. Für diejenigen, die diese Straßen normalerweise benutzten, war eben klar, wohin der Weg führte. Und wenn dem so ist, dann braucht es natürlich auch keine Hinweisschilder.

Damals habe ich zum ersten Mal selbst erlebt, was es bedeutet, in einen gesellschaftlichen Zusammenhang hineinzugeraten, in dem einfach klar ist, wo es lang geht. Da braucht man nicht zu fragen und man braucht auch keine Beschreibung - sofern man sich eben auskennt. Und diejenigen, die dort leben, die kennen sich eben aus.

Edward T. Hall ⋅1⋅ hat dieses Phänomen in seinem Buch "Beyond Culture" aus dem Jahr 1976 als "high context" bezeichnet. Das Wissen um die Zusammenhänge in solch einer Gesellschaft ist so hoch, dass es kaum noch Erklärungen bedarf. Natürlich hat sich mittlerweile, was den Straßenverkehr angeht, in Frankreich Vieles den europäischen Standards angeglichen, aber das Phänomen selbst lässt sich in vielen anderen Bereichen des alltäglichen Lebens bis heute feststellen.

Dass dies so ist, dass Frankreich so stark durch hochkontextuelle Beziehungen geprägt ist, kommt natürlich nicht von ungefähr. Geschichtlich betrachtet lässt sich dies vor allem dadurch erklären, dass die französische Gesellschaft schon seit Jahrhunderten stark zentralistisch strukturiert ist. Schon früh gab es ein einheitliches Maßsystem, eine einheitliche Währung und überall gilt der gleiche Lehrplan...

"low-context" am Beispiel Deutschland

In Deutschland hingegen gab es bis in die jüngste Neuzeit hinein eine Vielzahl von Kleinstaaten mit eigenen Münzen und eigenen Maßen. Und bis in die Gegenwart hinein unterscheiden sich die Schulsysteme von Bundesland zu Bundesland. Dadurch wurde die deutsche Gesellschaft ganz anders geprägt. Wer hier nicht nachgefragt hat, sich nicht über die am Ort geltenden Standards versicherte, konnte ganz schnell völlig falsch liegen.

Der Hochaltar der Bruchsaler Peterskirche verdeutlicht sehr anschaulich, welche Konsequenzen so etwas am Ende haben konnte. Bei genauem Hinsehen fällt auf, dass die Säulen leicht schräg stehen. Sie stehen nicht senkrecht sondern gehen nach oben hin leicht "auseinander". Das sieht zwar nicht schlecht aus, war aber so nicht geplant. Auf Plänen von Balthasar Neumann stehen die Säulen selbstverständlich senkrecht. Vermutlich arbeiteten die Steinmetze, die den Sockel mauerten nach einem anderen Schuh-Maß als die Zimmerleute, die für die Bekrönung verantwortlich waren. Der obere Teil des Altares ist einfach einige Zentimeter zu breit.

Während man sich in Frankreich keine Gedanken darüber machen musste, wie Längen gemessen und Gewichte bestimmt wurden, konnte man im Gebiet des heutigen Deutschland absolut nicht voraussetzen, dass wenige Kilometer entfernt noch das gleiche Maßsystem galt. Menschen, die von unterschiedlichen Orten kamen, mussten jedes Mal aufs Neue erfragen, welche Währung und welches Maßsystem an diesem Ort in Geltung waren.

Vielerorts wurden deshalb - in unmittelbarer Nähe von Marktplätzen etwa - die wichtigsten Maße für jeden sichtbar im wahrsten Sinne des Wortes in Stein gehauen. Am Freiburger Münster kann man das bis heute sehen. Dort konnte jeder und jede überprüfen, ob der Händler auch wirklich nach den in Freiburg gültigen Maßen gemessen hatte.

Eingravierungen am Freiburger Münster

Größe eines Brotlaibes und "Freiburger Elle" am Freiburger Münster

Foto: Jörg Sieger, 2006

Im Laufe der Zeit hat eine solche Umgebung, in der man ständig darauf angewiesen war, diese Zusammenhänge immer aufs Neue zu erfragen, die Art und Weise, wie Menschen miteinander kommunizieren, nachhaltig geprägt. Man gewöhnte sich letztlich daran, alles bis ins Detail hinein zu erklären - selbst dann, wenn überhaupt niemand danach fragt. In einer solchen Gesellschaft kann man ein Wissen um die allgemeinen Zusammenhänge ja nicht einfach voraussetzen. Das Wissen um Zusammenhänge ist so gering, dass es vielfacher Erklärung bedarf. Edward T. Hall nennt dies "low context"-Kommunikation.

"low-context" in Reinkultur

Menschen, die in einer "low context"-Kultur leben, fällt dies meist nur auf, wenn der direkte Vergleich gegeben ist. Man empfindet die eigene Art und Weise zu kommunizieren schließlich als "normal".

Manchmal treibt die Vorstellung, alles bis ins Letzte erklären zu müssen, aber solche Blüten, dass es selbst für Menschen, die in einer "low-context"-Kultur groß geworden sind, unfreiwillig komisch wirkt.

In einem Göttinger Hotel hing ein Seifenspender der Firma "mcs press+wash". Der Name des Produkts und das aufgedruckte Piktogramm sagen im Grunde schon alles. Eigentlich braucht es keiner weiteren Worte - eigentlich...

Der Göttinger Hotelier hatte aber offenbar das Gefühl, dass dieser Hinweis zur Benutzung des Seifenspenders so nicht ausreichend sei. Deshalb brachte er eine entsprechend ausführlichere Bedienungsanleitung an - und das gleich in mehreren Sprachen. Dort kann man lesen:

Gebrauchsanweisung

Beschriftungn neben einem Seifenspender
in einem Göttinger Hotel

Foto: Jörg Sieger, 2015

"Umgreifen Sie den Flakon mit einer Hand und drücken Sie, bis die gewünschte Menge entnommen ist."

Und dann muss natürlich noch eine Grafik dazu, die die genaue Vorgehensweise bis ins Detail verdeutlicht.

So sieht "low-context"-Kommunikation in Reinkultur aus.

Vorprogrammierte Missverständnisse

Die Unterscheidung Edward T. Halls in "low" und "high-context"-Kulturen ist ausgesprochen wichtig. Viele Schwierig­keiten in der Kommunikation zwischen Menschen haben ihre Ursachen in diesen unterschiedlichen Prägungen.

Menschen aus "high-context"-geprägten Kulturen gehen normalerweise davon aus, dass viele Informationen gar nicht gegeben werden müssen. Die muss man einfach "mithören", weil sie doch sowieso selbstverständlich seien.

Wenn man dies nicht berücksichtigt, sind Missverständnisse vorprogrammiert. Da heißt es dann ganz schnell:

"Das hätten Sie doch wissen müssen. So etwas muss man doch nicht ausdrücklich erwähnen."

Und andererseits lautet dann ganz schnell der Vorwurf:

"Warum haben Sie das nicht explizit gesagt, dann hätte ich es auch verstanden."

Beispiele für "high-" und "low-context"-Kulturen

So etwas begegnet nicht nur in Frankreich. Es gibt eine Vielzahl von "high-context"-Kulturen.

Ein entsprechendes Beispiel ist etwa Russland. Und auch hier lassen sich diese Zusammenhänge aus der Geschichte erklären. Ganz ähnlich wie in Frankreich war es vor allem die zentrale Steuerung aller Lebensbereiche, die ein hohes Wissen um Zusammenhänge in der Gesellschaft entstehen ließ. So berichtete mir ein ausgewiesener Kenner der ehemaligen Sowjetrepubliken, dass man zu Zeiten der Sowjetunion als Lehrer von Moskau nach Wladiwostok fliegen und dort in eine Schulklasse gehen konnte. Und es war keine Frage, welche Seite des Lehrbuches die Schüler an diesem Morgen in dieser Klasse aufschlagen mussten, weil in der gesamten Sowjetunion an diesem Tag in dieser Klassenstufe genau dieser Stoff durchgesprochen wurde.

In einer solchen Gesellschaft braucht man nicht viel zu fragen. Und muss auch nicht viel erklären.

Weitere Beispiele für "high-context"-Kulturen sind Griechenland, die Türkei, Spanien, die lateinamerikanischen und die konfuzianistisch geprägten Kulturen, also China, Korea oder Japan. Japan gehört zu den ausgeprägtesten "high-context"-Kulturen weltweit.

Beispiele für "low-context"-Kulturen sind auf der anderen Seite vor allem die individualistisch geprägten Gesellschaften in den skandinavischen Ländern, den Vereinigten Staaten und selbstverständlich - wie bereits erwähnt - in Deutschland. Nur in solch einem gesellschaftlichen Zusammenhang konnte so etwas wie der schon sprichwörtliche "Deutsche Schilderwald" entstehen.

Verkehrsschilder

Schilderwald in Berlin, 7. April 2009

© Bildagentur PantherMedia  / Thomas Knauer
Das Bild wurde freundlicherweise von der Bildagentur PantherMedia zur Verfügung gestellt

Nichts für die Ewigkeit

Natürlich sind auch in diesem Zusammenhang alle Verallgemeinerungen im Letzten falsch. Selbstverständlich gibt es auch innerhalb von "low-context"-Kulturen Gegebenheiten, die von ausgeprägter "high-context"-Kommunikation geprägt sind und umgekehrt. Und natürlich sind auch solche Zusammenhänge beständigem Wandel unterworfen.

Automatenbeschriftung

Beschriftung auf einem Kondomautomaten
in Göttingen, Mai 2015

Foto: Jörg Sieger, 2015

Ein schönes Beispiel dafür findet sich auf nebenstehend abgebildetem Automaten in einem Lokal in Göttingen. Es handelt sich dabei um einen Kondomautomaten auf der dortigen Herrentoilette.

Hier ist alles bis ins Letzte erklärt - so sehr, dass man sich ja schon fragen kann, ob es überhaupt erlaubt wäre, ein Zweimarkstück als erstes und dann erst drei einzelne Markstücke einzuwerfen oder ob es am Ende auch tatsächlich die hier angegebene Reihenfolge sein muss.

Letztlich aber ist die ursprüngliche Absicht, alles so ausführlich zu erklären, dass man genau weiß, woran man ist und wirklich nichts mehr falsch machen kann, hier jetzt völlig ad absurdum geführt. Und so macht genau dieses Beispiel deutlich, wie schnell solch eine "low-context"-Kommunikation ins genaue Gegenteil umschlagen kann. Diese Aufnahme stammt nämlich aus dem Jahr 2015. Die Zeiten der D-Mark sind schon lange vorbei! Eine andere Beschriftung gibt es aber nicht.

Der Aufdruck zielt auf Sicherheit und auf absolute Klarheit. Hier ist alles genau geregelt, bis ins letzte Detail; und dabei ist alles - und das schon seit Jahren - völlig überholt, völlig veraltet und deshalb am Ende auch absolut nicht hilfreich.

Was muss man denn jetzt wirklich in diesen Automaten einwerfen?

Da der Automat heute - im Zeitalter des Euro - immer noch in Betrieb ist, werden diejenigen, die ihn benutzen, das wohl wissen.

Und deshalb ist dieser Automat - ursprünglich beschriftet auf dem Hintergrund einer "low-context"-Kommunikation - nur noch für diejenigen benutzbar, deren Wissen um die Zusammenhänge offenbar sehr hoch ist. Ursprünglich einmal "low-context", jetzt aber "high-context" in Reinkultur. Die heutigen Benutzer wissen augenscheinlich darum, was man einzuwerfen hat - auch ohne Beschriftung.

Ich wäre übrigens daran gescheitert. Ich wüsste es nämlich nicht …

Dr. Jörg Sieger

Weiter-Button Zurück-Button Anmerkung

1 Edward Twitchell Hall der Jüngere wurde am 16. Mai 1914 in Webster Groves, Missouri geboren. Der US-amerikanische Anthropologe gilt als Begründer der interkulturellen Kommunikation als anthropologischer Wissenschaft. Er starb am 20. Juli 2009 in Santa Fe in New Mexico. Vgl. etwa: https://de.wikipedia.org/wiki/Ed­ward_T._Hall (abgerufen am 1.6.2016). Zur Anmerkung Button