Interkulturelle Kompetenz

Herausforderung für unsere Gesellschaft


Weiter-Button Zurück-Button Was eigentlich ist Kultur?

Was ist Kultur, Kultur einer Gesellschaft? Was genau hat man sich unter dem Wort und dem Phänomen vorzustellen? Machen wir es zunächst ganz klassisch und blicken ins Lexikon. In der Brockhaus-Enzyklopädie können Sie etwa lesen:

"In seiner weitesten Verwendung kann mit dem Begriff K.(ultur) alles bezeichnet werden, was der Mensch geschaffen hat, was also nicht naturgegeben ist." ⋅1⋅

So einfach diese Definition auch klingt, so einfach scheint es dann aber doch wieder nicht zu sein. Der Brockhaus zumindest führt dann auf sieben weiteren Lexikon­spalten aus, was alles unter "Kultur" mit all ihren unterschiedlichen Facetten verstanden werden kann. Dabei ist für unseren Zusammenhang vorab bedeu­tend, dass das lateinische Wort "colere" von dem sich der Begriff "Kultur" ableitet, den Bedeutungshorizont "bebauen", "be­stel­len" und "pflegen" aufweist. Von daher blicken wir hier in Richtung dessen, was man "zu tun pflegt". Und damit nähern wir uns bereits dem weiten Feld der "Traditionen" und des "Brauchtums".

Erlernt - nicht angeboren

Traditionen werden von einer Generation an die andere weitergeben und in Brauchtum wächst man hinein. Beide Begriffe machen bereits deutlich, dass Kultur nichts Angeborenes ist. Kultur hat nichts mit Genen zu tun und erst recht nichts mit unterschiedlichen Rassen - auch wenn das in entsprechenden Kreisen immer wieder behauptet wird.

Kultur wird erlernt und häufig wird sie sehr mühsam erlernt. Wie viele Auseinandersetzunger mit den Eltern, mit Lehrern, mit Vorschriften, die man nicht einsehen wollte, prägen die Geschichte des eigenen Lebens. Wie oft fiel und fällt im Laufe der Erziehung auf die so oft wiederkehrende Frage nach dem "Warum?" der Satz: "Weil das halt so ist!" - Oder kennt jemand eine bessere und wirklich treffende Antwort auf die Frage, warum man denn die Hände nicht in den Taschen haben dürfe, während man mit Erwachsenen redet? "Bei uns ist das halt so!" heißt es dann oft. Und das bedeutet letztlich: So wird bei uns der Respekt gegenüber anderen ausgedrückt. Dabei handelt es sich allerdings einzig um Konvention und nicht um wirklich begründbare und notwendigerweise so und nicht anders aussehende Handlungsmuster.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass Kultur sehr viel kleinteiliger ist, als man häufig annimmt. Kultur hat zunächst einmal nur bedingt etwas mit Ländern und Nationen zu tun. Natürlich gibt es auch so etwas wie eine Landeskultur. Aber wir leben in weit mehr und ganz unterschiedlichen Kulturen, nicht nur in der eines Landes. Es gibt beispielsweise regelrechte Firmenkulturen und Vereinskulturen. Und die kleinste Kultur mit der wir es meist zu tun haben, ist die Familienkultur. Sie ist auch in der Regel die erste, die wir in unserem Leben erlebt und mit der wir uns auseinandergesetzt haben.

Und den ersten wirklichen Kulturschock in unseren Breiten erleben Menschen deshalb auch häufig dann, wenn er und sie - über beide Ohren verliebt - gerade zusammengezogen sind und das erste Mal gemeinsam Weihnachten feiern: "Machen wir das wie bei euch oder machen wir das wie bei uns?" - Da prallen dann zwei Familienkulturen - häufig ganze Welten - aufeinander.

Ein Orientierungssystem

Von den mittlerweile über 170 Versuchen zu definieren, was Kultur letztlich ist, scheinen die Überlegungen von Alexander Thomas ⋅2⋅ für unsere Fragestellung mit am hilfreichsten zu sein. Für ihn ist Kultur ein universelles Phänomen, das allen Menschen eigen ist. Sie manifestiert sich in einem spezifischen Orientierungssystem, das in einer Gruppe von Menschen tradiert und weitergegeben wird. In dieser Gruppe von Menschen wurde dieses Orientierungssystem einst hervorgebracht. Und die Mitglieder einer solchen Gruppe werden nun von diesem System in ihrem Denken und Handeln geprägt. Jeder und jede Einzelne entwickeln auf ihre Art und Weise dieses Orientierungssystem aber auch beständig weiter.

Knapp zusammengefasst kann man mit Alexander Thomas sagen: Kultur ist ein "inneres Orientierungssystem" ⋅3⋅. Und es ist ein System der Orientierung, das wir erlernt haben und das uns von klein auf geprägt hat.

Vieldimensionalität von Kultur

durchgeschnittene Zwiebel

Lizenz: Amada44,
Red onion cut, als gemeinfrei gekennzeichnet,
Details auf Wikimedia Commons

Dabei ist dieses Orientierungssystem nicht leicht zu fassen. Es ist in sich äußerst vielschichtig. Deshalb wird Kultur auch oft mit einer Zwiebel verglichen.

Wie bei den Schalen bzw. Schichten einer Zwiebel gibt es bei Kulturen offensichtlichere Bereiche und darunter viele Schichten, die - dem Zugriff von Schicht zu Schicht mehr und mehr verborgen - im Inneren angesiedelt sind.

In der äußeren Schicht würde man dementsprechend Symbole, Kleidung, Essen, Bilder und Sprache suchen.

Vorbilder und Helden und auch Mythen finden sich in einer darunterliegenden Schicht.

Noch darunter sind die unterschiedlichen Rituale angesiedelt. Zu ihnen gehören Begrüßungs- oder Abschiedsrituale genauso wie die unterschiedlichen Arten Trauer auszudrücken oder auch die Hochzeit zu feiern. Aber auch der Umgang mit Macht und die Art, wie eine Regierung gebildet wird, die Formen, wie Freude und Anerkennung ausgedrückt werden, oder die unterschiedlichen Arten der Bestrafung bis hin zu den verschiedenen gesellschaftlichen Feierlichkeiten sind in dieser Schicht zu suchen.

All diese Ausdrucksweisen von Kultur basieren auf Werten und Normen, die in der nächsttieferen Schicht zu finden sind. Hier ist grundgelegt, was als "gut" oder als "schlecht" beurteilt wird. Tugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit haben hier ihren Platz.

Den Kern der Kulturzwiebel bilden dann sogenannte Grundannahmen. Hier handelt es sich um Basisannahmen, die nicht mehr weiter hinterfragt und auch nur bedingt argumentativ durchdrungen werden können. Ist der Mensch gut oder ist der Mensch von Natur aus schlecht? Gibt es einen Gott oder nur das, was wir sehen können? Geht es nach dem Tod weiter oder ist mit dem Ende dieses Lebens alles aus? Und ist das Leben schön oder ein Jammertal, von dem ich nicht wirklich etwas zu erwarten habe? Diesen Fragen kann man sich nur schwer mit Argumenten nähern. Sie sind in vielen Fällen wie Axiome, die nicht in Frage gestellt, sondern innerhalb einer Kultur einfach vorausgesetzt und als allgemeingültig betrachtet werden.

Alles, was man nicht sieht ...

Ein weiteres, ausgesprochen hilfreiches Modell, um die Spezifika von Kultur ins Bild zu bringen, ist das des Eisberges. Was beim Zwiebelmodell in der äußeren Schale anzusiedeln ist, entspräche in diesem Bild jenem Teil eines Eisberges, der oberhalb der Wasseroberfläche sichtbar ist.

Grafik eines Eisberges

Kultur als Eisberg

Jörg Sieger nach Charles E. Osgood

Das sind die Bereiche von Kultur, die man erfassen und wahrnehmen kann. Hier geht es um Literatur, um Bauwerke, die Sprache und das Essen - all das, woran wir uns erfreuen, wenn wir in ein anderes Land reisen, um dessen kulturellen Reichtum zu bestaunen.

Charles E. Osgood verwendete für diesen Bereich den Begriff "Percepta", abgeleitet vom lateinischen Wort "percipere", das so viel wie "erfassen" und "wahr­nehmen" bedeutet. ⋅4⋅

Die Dinge, die uns in diesem Teil des Eisbergs begegnen, bereiten selten Schwierigkeiten. Ich erfreue mich am italienischen Essen, an den Kirchen, der Musik oder ich mag all dies eben nicht. Ich kann mich klar verhalten, weil all dies ja auch sinnlich wahrnehmbar vor mir steht.

Weit schwieriger sind die Bereiche des Eisberges, die unterhalb der Wasseroberfläche liegen. Hier geht es um den Teil, der eher unbewusst und verborgen ist. Osgood fand dafür die Bezeichnung "Concepta". Das dazuge­hörige lateinische Wort "concipere" bedeutet so viel wie "empfinden" und "fühlen". ⋅5⋅

Dies ist der Bereich in dem es Missverständnisse und Konflikte gibt und Kulturen sprichwörtlich aufeinanderprallen. Und - ganz ähnlich wie bei einem Eisberg - entstehen diese Kollisionen häufig schon, bevor wirkliche Kontakte zwischen Vertretern unterschiedlicher Kulturen zustande gekommen sind. Der unter der Wasseroberfläche liegende Teil eines Eisbergs ist weit ausladender als das, was oberhalb davon sichtbar ist.

Dieser Bereich der "Concepta" zerfällt aber letztlich auch wieder in zwei große Bereiche. Beim ersten handelt es sich um Dinge wie Kommunikationsstile, Riten und Verhaltensweisen - so etwa die Formen der Begrüßung und der Ablauf einer Festivität - all die Dinge, die einem das Leben schwer machen, wenn man sich als Fremder in einer anderen Kultur bewegt, ohne wirklich zu wissen, was dort übliche Umgangsformen sind. Aber auch Werte, wie etwa der Respekt vor Älteren, gehören in diesen Bereich. Petra Köppel nennt diesen Teil des "Kultureisberges" deshalb auch "Werte und Normen". ⋅6⋅

Dieser Bereich ist aber bei weitem nicht der schwierigste. Hier handelt es sich um all die Dinge, die einem zwar auf Anhieb Schwierigkeiten bereiten, die ich aber erlernen und an die ich mich gewöhnen kann. Wenn ich einmal zwei Jahre lang in Italien gelebt habe, dann weiß ich, wie man sich begrüßt, einen "caffè" so bestellt, dass man ihn zum Preis für Einheimische und nicht für Touristen erhält und ich kann mich auch bei Behörden einigermaßen sicher bewegen.

Grafik zweier Eisberge

Zusammenprall zweier Kulturen

Jörg Sieger nach Charles E. Osgood

Weitaus schwieriger ist der noch darunter und weit ausladendere Bereich der "Basisannahmen". ⋅7⋅ Hier gibt es nichts zu lernen und auch nichts, woran man sich im Letzten wirklich gewöhnen könnte. Dies sind die Dinge, die mich auch nach Jahren in einem fremden Land immer noch aufregen, die Dinge, "die ich nie verstehen werde". Und hier prallen die Kulturen oder - genauer gesagt - die kulturellen Unterschiede auch am härtesten zusammen. Wie soll auch jemand, dessen Denken, Tun und Handeln davon geprägt wurde, dass jeder Augenblick einzigartig ist und keine Zeit vergeudet werden darf, damit zurechtkommen, wenn er sich plötzlich unter Menschen wiederfindet, die offenbar alle Zeit der Welt haben, weil ihre Vorstellung von der Zeit eine ganz andere ist; weil sie davon ausgehen, dass sich alles wie in einem großen Kreislauf wiederholt und deshalb, was heute nicht erledigt werden konnte, ja auch morgen noch - oder übermorgen - bewerkstelligt werden kann.

Erschwerend hinzu kommt, dass die meisten Menschen sich über ihre eigenen kulturellen Prägungen, insbesondere über die, die - im Bild des Eisberges gesprochen - unterhalb der Wasseroberfläche liegen, gar nicht bewusst sind. Kulturelle Spannungen überraschen daher häufig alle Beteiligten.

Deshalb geht es im interkulturellen Kontext - wie so oft - zuallererst darum, den eigenen unbewussten Teil meiner Kultur, mir selbst bewusst zu machen. Denn bei interkulturellen Konflikten kracht es in aller Regel unterhalb der Oberfläche. Es kracht und meist weiß keiner der Beteiligten wirklich, warum ...

Kultur und Fremdheit

Aus der Beschreibung als "Orientierungs­system" wird im Übrigen auch bereits deutlich, warum Kultur einerseits mit dem Phänomen der Vertrautheit, der Sicherheit und der Beheimatung zu tun hat, andererseits aber auch gleichzeitig mit Fremdheit, Befremden und Angst vor dem ganz Anderen einhergeht. Denn wenn Kultur vor allem mit einem Orientierungssystem zusammenhängt, dann sind mir all diejenigen, die sich im gleichen System bewegen, also der gleichen Kultur angehören, vertraut und irgendwie ähnlich. Diejenigen aber, die dieses System nicht kennen und sich anders verhalten, anderen Orientierungssystemen folgen, die erweisen sich von vorneherein als fremd, der Gepflogenheiten unkundig und dementsprechend als potentielle Bedrohung, zumindest aber als Menschen, die nicht darum wissen, "was sich bei uns halt so gehört".

Da diese Unterschiede und die damit zusammenhängenden Hintergründe selten bewusst und vom Kopf her gesteuert wahrgenommen werden, sich all dies meist viel eher unterbewusst abspielt, führen kulturelle Gegensätze oder besser gesagt, kulturelle Nichtübereinstimmungen immer wieder zu Irritationen und Konflikten, bei denen nicht selten unklar bleibt, woher sie denn jetzt so urplötzlich kamen und was genau ihre Ursachen gewesen sind.

Dr. Jörg Sieger

Weiter-Button Zurück-Button Anmerkungen

1 Art.: Kultur, in: Brockhaus-Enzyklopädie (19. Auflage 1990) XII,580. Zur Anmerkung Button

2 Alexander Thomas, geboren am 4. November 1939, war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2015 Professor mit dem Forschungsschwerpunkt interkulturelle Psychologie in Berlin und Regensburg. Vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Alexan­der_Thomas (abgerufen am 7.7.2016). Zur Anmerkung Button

3 "Kultur ist ein universelles Phänomen. Alle Menschen leben in einer spezifischen Kultur und entwickeln sie weiter. Kultur strukturiert ein für die Bevölkerung spezifisches Handlungsfeld, das von geschaffenen und genutzten Objekten bis hin zu Institutionen, Ideen und Werten reicht. Kultur manifestiert sich immer in einem für eine Nation, Gesellschaft, Organisation oder Gruppe typischen Orientierungssystem. Dieses Orientierungssystem wird aus spezifischen Symbolen (z. B. Sprache, Gestik, Mimik, Kleidung, Begrüßungsritualen) gebildet und in der jeweiligen Gesellschaft, Organisation oder Gruppe tradiert, das heißt an die nachfolgende Generation weitergegeben. Das Orientierungssystem definiert für alle Mitglieder ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft oder Gruppe und ermöglicht ihnen ihre ganz eigene Umweltbewältigung. Kultur beeinflusst das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln aller Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft. Das kulturspezifische Orientierungssystem schafft einerseits Handlungsmöglichkeiten und Handlungsanreize, andererseits aber auch Handlungsbedingungen und setzt Handlungsgrenzen fest." (vgl.: Alexander Thomas, Psychologie Interkulturellen Handelns, zit. nach: Alexander Thomas, Eva-Ulrike Kinast, Sylvia Schroll-Machl (Hrsg.), Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation (Göttingen 22005) I/22). Zur Anmerkung Button

4 Charles E. Osgood, Culture: Its Empirical and Non-Empirical Character, in: Southwestern Journal of Anthropology (7/1951) 202-214, vgl.: http://www.daswirtschaftslexikon.com/d/or­ganisationskulturen/organisationskul­tur.htm#ORGA0408L35 (abgerufen am 7.7.2016). Vgl. auch Petra Köppel, Kulturerfassungsansätze und ihre Integration in interkulturelle Trainings (Books on Demand 2002) 23. Zur Anmerkung Button

5 Charles E. Osgood, Culture: Its Empirical and Non-Empirical Character, in: Southwestern Journal of Anthropology (7/1951) 202-214, vgl.: http://www.daswirtschaftslexikon.com/d/or­ganisationskulturen/organisationskul­tur.htm#ORGA0408L35 (abgerufen am 7.7.2016). Vgl. auch Petra Köppel, Kulturerfassungsansätze und ihre Integration in interkulturelle Trainings (Books on Demand 2002) 23. Zur Anmerkung Button

6 Vgl. Petra Köppel, Kulturerfassungsansätze und ihre Integration in interkulturelle Trainings (Books on Demand 2002) 23. Zur Anmerkung Button

7 Vgl. Petra Köppel, Kulturerfassungsansätze und ihre Integration in interkulturelle Trainings (Books on Demand 2002) 23. Zur Anmerkung Button