Interkulturelle Kompetenz

Herausforderung für unsere Gesellschaft


Weiter-Button Zurück-Button Kulturerkundung

Um sich mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen, ist es notwendig, den eigenen kulturellen Hintergrund genauer zu beleuchten. Dies gelingt am besten, wenn man sich darum bemüht, möglichst aufmerksam zu beobachten und wahrzunehmen - und dies ohne gleich zu bewerten und zu beurteilen.

Ein Selbstversuch

Jeder und jede kann dies für sich selbst versuchen - oder noch besser in einer kleinen Gruppe. Ich empfehle Ihnen sogar, dieses kleine Experiment zu wagen, bevor Sie diese Seite zu Ende lesen. Sie finden untenstehend das Skript zu einer Kulturerkundung, wie ich sie mittlerweile mit gut zwei Dutzend Gruppen von Ehrenamtlichen zum Einstieg in ein entsprechendes Wochenendseminar unternommen habe. Sie werden mit großer Sicherheit schon bald die Erfahrung machen, dass es alles andere als einfach ist, die entsprechenden Orte wirklich zu beschreiben.

Wenn wir uns mit anderen Kulturen auseinandersetzen möchten, ist es notwendig, unseren eigenen Standpunkt in den Blick zu nehmen. Machen Sie sich bitte Gedanken über einen der folgenden Orte:

  • einen typisch deutschen Arbeitsplatz,
  • ein typisch deutsches Wohnzimmer,
  • ein typisch deutsches Klassenzimmer,
  • ein typisch deutsches Krankenzimmer,
  • einen typisch deutschen Friedhof

Was beobachten Sie? Im Folgenden finden Sie mögliche Kategorien - nicht alle treffen auf den von Ihnen zu erkundenden Ort zu.

  • Wie ist der Raum gegliedert?
  • Welche zeitlichen Abläufe spielen eine Rolle?
  • Wichtige (bedeutsame, sakrale, hervorgehobene) Objekte und Symbole.
  • Welche Töne und Geräusche prägen diesen Raum?
  • Gibt es spezifische Gerüche?
  • Welche Rollen spielen die anwesenden Personen (Hierarchien, Geschlechtsrollen etc.)?
  • Gibt es besondere Körperhaltungen und -bewegungen der Menschen (Sitzen, Knien, Stehen etc.)?
  • Wie steht es um Körperkontakte und Körper-Distanzen zwischen den Personen an diesem Ort?
  • Welche Kommunikationsformen (Sprache, Gestik und Mimik) spielen dort eine Rolle?
  • Werden an diesem Ort besondere Begriffe verwendet (die sich z. B. auf Werte, Normen oder Mythen beziehen)?
  • Wie steht es um Kleidung und Schmuck?
  • Üben Personen an diesem Ort bestimmte technische oder organisatorische Tätigkeiten aus?
  • Spielt dort eine (rituelle) Aufnahme von Nahrung, Getränken oder Drogen eine Rolle?

Vielleicht machen Sie sich Notizen. Möglicherweise werden Ihnen schon nach dieser Übung ein paar wichtige Dinge bewusst geworden sein.

Was ist typisch?

Die erste Schwierigkeit bereitet schon der Begriff "typisch". Was ist typisch? Und vor allem: Was ist typisch deutsch? In einer Gruppe stellt man zudem ganz schnell fest, wie sehr man von eigenem Erleben und Kindheitserinnerungen geprägt ist. Vieles ist schon deshalb typisch, weil man selbst es so kennengelernt hat. Und manches gerät völlig aus dem Blick, weil es im eigenen Erfahrungshorizont schon gar nicht mehr begegnet.

Foto eines Wohnzimmers

Wohnzimmer in Deutschland

Lizenz: Jung von Matt AG (Fotograf: H. Schröder),
JvM haeufigstesWohnzimmer, CC BY-SA 3.0

Im Umfeld einer Stadt wie Karlsruhe beschreiben viele beispielsweise als typisch deutschen Arbeitsplatz einen Schreibtisch im Büro. Und häufig braucht es in einem solchen Umfeld sogar eine gewisse Zeit, bis überhaupt auffällt, dass ein guter Teil der deutschen Bevölkerung gar nicht im Büro arbeitet. Im Taubergrund denken Menschen beim Arbeitsplatz noch sehr schnell an einen landwirtschaftlichen Betrieb, während dies in einer Ehrenamtsgruppe im städtischen Umfeld von Freiburg i. Br. kaum einmal der Fall sein dürfte.

Wenn die Gondel typisch wird

Beim Wohnzimmer gibt es in der Regel die meisten Übereinstimmungen. Zu fast jedem Wohnzimmer gehört eine Sitzgruppe oder eine Schrankwand. So unterschiedlich wie die Menschen sind, so unterschiedlich sehen diese Teile aber häufig aus. Und vor allem hat sich ihre Erscheinungsform in den zurückliegenden Jahrzehnten ganz stark verändert. Wie stark unser Lebensraum dem Wandel unterworfen ist, wird vor allem im Blick auf das Wohnzimmer deutlich, das sich von der kaum geheizten guten Stube zum wohnlichen Raum für Entspannung und Erholung gewandelt hat.

Als schon beinahe "quasi-religiöses Element" begegnet mittlerweile fast überall der Fernseher, der meist einen zentralen Platz - gleich einem Altar - einnimmt, auf den schon beinahe alle anderen Möbelstücke hin ausgerichtet sind.

Interessant ist, dass Fremde häufig ganz anderes als "typisch" empfinden als wir selbst. Eine Teilnehmerin an einem interkulturellen Training erzählte mir beispielsweise, dass ihr Vater einer der ersten italienischen Gastarbeiter in Deutschland war. Er bemühte sich sehr darum, zu seinen deutschen Kollegen guten Kontakt zu halten und wurde auch mehrmals zu Arbeitskollegen nach Hause eingeladen. Dort fiel ihm auf, dass offenbar alle aus den ersten Italienurlauben ein Plastikmodell einer venezianischen Gondel mitgebracht hatten. Auf den neu in Mode gekommenen "Sideboards" stand überall, wo er hinkam, eine solche Gondel. Kein Italiener wäre damals wohl auf die Idee gekommen, sich solch ein Modell in die Wohnung zu stellen. Für ihn aber war klar, dass dies offenbar zu einem deutschen Wohnzimmer gehört. Und weil der Vater jener Teilnehmerin nun ein guter Deutscher werden wollte, schaffte er sich - wie selbstverständlich - eine solche Gondel an und stellte sie prominent platziert ins Wohnzimmer.

Exportschlager Schule

Ein Klassenzimmer zu beschreiben, fällt den meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Seminaren meist am leichtesten: Bankreihen, Tafel, Schwamm, Gong...

Klassenzimmer mit Schülern

Schüler in einem Klassenzimmer an der Elfenbeinküste

Lizenz: Zenman, Cieleves, CC BY-SA 3.0

Und Klassenzimmer identifiziert man auf diese Weise auf der ganzen Welt. Egal, wo man auch hinkommt: Ein Schulraum sieht überall ähnlich aus. Das aber liegt nicht daran, dass sich Schulen auf der ganzen Welt ähnlich entwickelt hätten und damit gleichsam ein allgemeinmenschliches kulturelles Phänomen wären. Es hängt letztlich damit zusammen, dass Schulen einer der "Exportschlager Europas" schlechthin sind. Überall auf der Welt wurden von Missionaren, Ordensleuten und Kolonialmächten Schulen errichtet - und zwar nach europäischem Vorbild. Dies geht soweit, dass manche Bank in Klassenzimmern auf fernen Kontinenten vor Zeiten mal in einem deutschen oder französischen Klassenzimmer gestanden hat.

Bei genauem Hinsehen gibt es allerdings auch deutliche Unterschiede. Jüngere Menschen berichten davon, dass sich in deutschen Klassenzimmern in den letzten Jahren einiges verändert hat. Sie sprechen von Whiteboards, PC-Arbeitsplätzen, immer wieder anderen Bestuhlungen und Unterrichtsformen. Eine ältere Lehrerin warf bei einem Seminar ein, dies habe schließlich auch zur Folge, dass Schülerinnen und Schüler heute nichts mehr lernen würden. Es würde nicht mehr auswendig gelernt und es gäbe immer weniger Allgemeinbildung. Eine ebenfalls pensionierte Kollegin widersprach daraufhin vehement:

"Schüler lernen heute anderes!"

meinte sie. Während früher - und vielerorts auch heute noch - vor allem Wert auf Aneignung von Wissen gelegt wurde, geht es heute in deutschen Schulen nicht minder um Förderung von Kreativität und Teamarbeit. Eine Pädagogik, die davon lebte, dass einer vorsagte und alle im Chor nachgesprochen haben, also gleichsam nur noch nachdachten, was ein anderer bereits vorgedacht hatte, wurde abgelöst von der Vermittlung der Fähigkeit, selbständig Probleme anzugehen und Lösungen mit anderen zu erarbeiten. Diesen Zusammenhang wahrzunehmen ist wichtig. Menschen, die in einem solchen Schulsystem groß geworden sind, sind anders geprägt, als Menschen, die vor allem gelernt haben, Lösungen anhand vorgegebener Bahnen zu suchen.

Der Nabel der Welt

Ganz ähnlich, wie bei den Schulen, scheint es sich - auf den ersten Blick - beim Krankenzimmer zu verhalten. Krankenhäuser, wie wir sie kennen, gibt es überall auf der Welt. Und auch bei dieser Entwicklung standen häufig die Kolonialmächte Pate. Letztlich kann man heute mit dem nötigen Kleingeld in der Tasche sich fast überall auf der Welt ähnlichen medizinischen Standard leisten.

Die Vorstellung aber, dass man allein auf diese Weise schon beschreiben könne, was es über das weltweite Gesundheitssystem zu sagen gibt, greift völlig zu kurz. Dies stimmt nämlich einzig von einer europäischen Warte aus. Man würde dabei vergessen, dass unsere Welt und das Erleben von Heilung und Heilen weitaus vielschichtiger ist.

Der größte Teil der Menschheit wächst im Vertrauen auf Naturmedizin auf. Es ist europäische Überheblichkeit, die davon ausgeht, dass es so, wie es bei uns ist, "doch normal" sein müsse und dass es so auf jeden Fall auch "richtig" sei. Nicht selten betrachten Europäer alles andere als das, was wir gewohnt sind, als suspekt und irgendwie rückständig.

Wir sind aber nicht der Nabel der Welt - auch wenn wir uns sehr häufig dafür halten. Es sind keine rückständigen Menschen, die auf nebenstehendem Bild in Johannesburg einem Schamanen vertrauen. Allein von ihrer Kleidung her würden sie in unseren Städten kaum besonders auffallen.

Entscheidend für sie dürfte sein, dass die für sie bekannten Praktiken und Rituale, die dieser Schamane hier praktiziert, eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen: ein Vertrauen darauf, in dieser Umgebung gesund bleiben oder auch werden zu können.

Auch in der Schulmedizin wurde ja erkannt, dass weit mehr zum Gesunden beiträgt als chemische Stoffe. Es hat sich schließlich gezeigt, dass nicht selten auch das Verabreichen von Placebos zur Heilung beiträgt. Allein die vertraute Praxis, etwas von einem Arzt verschrieben zu bekommen, setzt offenbar Heilkräfte in Bewegung. Ritualisierte Vorgänge sorgen auch bei uns für ein Gefühl des Vertrauens, das Menschen heil werden lässt. Immer wiederkehrende Zeichen und Prozeduren, wie etwa die Visite im Krankenhaus oder der weiße Kittel eines Arztes, erreichen dabei schon fast liturgische Dimensionen und sorgen für die entsprechende heilsame Atmosphäre. Schließlich weiß man auch bei uns um das Sprichwort:

"Hauptsache man glaubt daran..."

Blümchen auf dem Grab

Auch auf Friedhöfen spielen ritualisierte Abläufe eine große Rolle. Sie dienen dazu, Menschen das Trauern zu erleichtern bzw. ihnen dabei zu helfen. Das funktioniert aber nur, wenn einem die entsprechenden Riten und Bräuche wirklich bekannt und vertraut sind. In unserem Kulturkreis gehören hierzu klassischerweise meist Ruhe und Stille. Blumen auf einem Grab zeugen vom Gedenken an einen verstorbenen Menschen.

Überwachsene Grabsteine

Jüdischer Friedhof in Frankfurt

Foto: Jörg Sieger

Auf einem jüdischen Friedhof finden sich solche Blumen allerdings nicht. Niemand käme auf die Idee, dort auf einem Grab Blumen zu pflanzen. Durch die Berührung von Totem wird man im Kontext jüdischer Vorstellungen unrein und muss sich erst wieder rituell reinigen, um am normalen Leben teilnehmen zu können. Diese Aura haftet auch einem Friedhof an. Schon der Besuch eines Friedhofes macht mich unrein und ich muss mir danach wenigstens die Hände waschen, um wieder rein zu sein.

Stellen Sie sich nun vor, wie ein Mensch, der von Kindheit an so geprägt ist, zum ersten Mal in den Tagen vor dem Fest Allerheiligen auf einen Friedhof in Deutschland geht. Er, der stets einen gebührenden Abstand zu einem Grab halten und allerhöchstens noch einen Stein auf den Grabstein legen würde, sieht nun eine Frau, die nicht nur auf einem Grab kniet, sondern auch noch mit ihren Händen in der Erde wühlt und dort Blümchen pflanzt. Er würde die Welt nicht mehr verstehen.

Genauso wie wir Mühe haben zu verstehen, dass für Menschen bei einer Beerdigung in New Orleans fröhliche und lautstarke Musik dazu gehört ⋅1⋅. Die Musiker, die wir für die Gestaltung einer Trauerfeier bezahlen, lassen in der Regel ganz andere Töne erklingen. Dass man bei einer Beerdigung ausgelassen tanzt, lässt sich allerdings auf dem Hintergrund der Geschichte amerikanische Sklaven erklären. Wenn das Leben selbst nur noch Jammertal bedeutet und die einzige Hoffnung darin besteht, dieses Leben bald hinter sich zu lassen, weil ein besseres Leben nur in einer jenseitigen Welt zu erwarten ist, dann ist der Tod tatsächlich mehr als Erlösung und gar Anlass zur Freude. Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass dieses Leben noch möglichst lange dauern möge, können das kaum nachvollziehen.

Nur eine erste Annäherung

Schon diese erste Annäherung an das Phänomen "deutsche Kultur" und die Gegenüberstellung mit anderen kulturellen Zusammenhängen können deutlich machen, wie sehr unterschiedliche Erfahrungen, Lebensumstände und die Einflüsse meiner Umwelt das eigene Erleben, Empfinden und Bewerten prägen. Und es wird hoffentlich auch bewusst geworden sein, dass es sich schon bei der Frage nach der eigenen Kultur um ein sehr komplexes und vielschichtiges Thema handelt. Es bedarf letztlich einer weit differenzierteren und vor allem einer systematischen Betrachtung.

Dr. Jörg Sieger

Weiter-Button Zurück-Button Anmerkung

1 Vgl. etwa: https://www.youtube.com/watch?v=InqnQ8vU3DU (abgerufen am 19.1.2017). Zur Anmerkung Button