Interkulturelle Kompetenz
Herausforderung für unsere Gesellschaft
Leserichtungen
Foto: Sophie-Catherine Schneider, 2021.
Vor dieser Inschrift in der Freiburger Innenstadt stehen immer wieder Menschen und rätseln.
"ASES UTRE GIMU UNUM",
hört man dann - häufig mit dem Nachsatz:
"Tut mir leid, ich kann kein Latein!"
Dies ist ein sehr schönes Beispiel dafür, wie sehr unser Gehirn darauf "trainiert" ist, von links nach rechts zu lesen. Dabei ist die Entschlüsselung dieser Inschrift ganz einfach. Man muss die Buchstabenreihen nur von oben nach unten angehen und erhält des Rätsels Lösung: Man steht nämlich vor dem Freiburger "Augustinermuseum".
Leserichtungen prägen
Dass wir lateinische Buchstaben von links nach rechts lesen, prägt aber nicht nur unser Entziffern von Texten. Wir interpretieren auch die Anordnung von Piktogrammen in aller Regel in der gleichen Leserichtung. Und wir "erzählen" Geschichten in Bildern nicht minder von links nach rechts. Das gilt nicht nur für regelrechte Bildergeschichten wie etwa Comics, bei denen einzelne Bilder auf einer Seite entsprechend angeordnet werden. Das gilt nicht minder für die Darstellung in Bildern selbst.
Mittelalterliche Darstellungen etwa muss man in unserem Kulturkreis immer von links nach rechts zu entschlüsseln versuchen. Das Tympanon eines mittelalterlichen Portals etwa, liest man von links nach rechts und - interessanterweise - von unten nach oben. Und bei mittelalterlichen Gemälden wird die Geschichte fast immer von links nach rechts erzählt. So kommt der Engel der Verkündigung in aller Regel von links.
Lizenz: Leonardo da Vinci artist QS:P170,Q762 Livioandronico2013, Annunciation (Leonardo) (cropped), CC BY-SA 4.0.
Vom "Fremdkörper" Zahlen
Dass man auch "anders denken" kann, müsste uns jedes Mal bewusst werden, wenn wir Zahlen schreiben. Unsere sogenannten "arabischen Zahlen" stammen aus einem anderen Kulturkreis. Dort ist man gewohnt, von rechts nach links zu lesen, zu erzählen und zu denken. Deshalb sind arabische Zahlen auch so aufgebaut, dass sie von rechts nach links gelesen völlig logisch erscheinen: es beginnt mit dem kleinsten Wert und steigert sich: 12 bedeutet 2 Einer und 1 Zehner.
Uns fällt normalerweise kaum noch auf, dass wir bei Zahlen "umdenken" müssen, um sie richtig zu entschlüsseln. Wir haben uns daran gewöhnt, dass sie ein "Fremdkörper" in unserer Darstellungsform sind. Kindern in der Grundschule fällt das häufig noch schwerer. Mein Patenkind hat "12" dementsprechend anfangs immer als "Einundzwanzig" gelesen.
Auf jeden Fall können wir Zahlen, wenn wir sie in unseren Texten sauber untereinander schreiben wollen, nicht wie alle anderen Aufzählungen am linken Rand platzieren. Zahlen muss man rechtsbündig schreiben.
Wenn wir Piktogramme und Bilder verwenden, sollten wir auf jeden Fall berücksichtigen, dass man - beispielsweise durch einen Pfeil - die Leserichtung angeben muss, wenn man möchte, dass Menschen, die durch andere Schriften gepägt sind, verstehen sollen, was man mit den Bildern zum Ausdruck bringen will.
Die Leserichtung einzelner Schriften
Chinesische, japanische und koreanische Schriften werden traditionell von oben nach unten geschrieben. Als sekundäre Schreibrichtung findet sich die Schreibung von rechts nach links. Vor allem durch westlichen Einfluss hat sich in jüngster Zeit allerdings neben der Orientierung von oben nach unten auch die Schreibrichtung von links nach rechts etabliert.
In der Frühzeit war man auch in unseren Breiten nicht festgelegt. Im frühen Griechenland schrieb man beispielsweise "bustrophedone", was soviel bedeutet wie "wie der Ochse pflügt". Man schrieb also eine Zeile von links nach rechts und die nächste dann von rechts nach links, um wieder mit links nach rechts weiterzumachen. ⋅1⋅
Auch wenn bei der untenstehenden Auflistung der einzelnen Schriftarten die Reihe der Länder und Sprachen dominiert, die lateinische Buchstaben verwenden und deshalb von links nach rechts schreibt, darf man sich nicht täuschen lassen. Die Zahl der Sprachen und Länder sagt noch nichts über die Anzahl der Menschen aus, die dort lebt bzw. diese Sprachen spricht. Man denke dabei nur an die über eine Milliarde Menschen, die im chinesischen Kulturraum leben.
In der Liste ist hinter der Schriftart jeweils der geographische Raum angegeben, in der diese Schriftart verwendet wird, und die Sprache(n), die mit dieser Schriftart geschrieben werden. ⋅2⋅
Leserichtung von rechts nach links
- arabische Schrift: Mittlerer Osten (Arabisch), Afghanistan (Paschtunisch), Pakistan (Urudu)
- hebräische Schrift: Israel (Hebräisch)
Leserichtung von oben nach unten
- chinesische Schrift (traditionell): Hongkong, Taiwan (Kantonesisch) [auch von links nach rechts]
- chinesische Schrift (vreinfacht): China (Mandarin) [auch von links nach rechts]
- Hangul, Hanja: Korea (koreanisch) [auch von links nach rechts]
- Kanji, Hiragana, Katakana: Japan (Japanisch) [auch von links nach rechts]
Leserichtung von links nach rechts
- armenische Schrift: Armenien (Armenisch)
- Devnagari: Indien (Hindi)
- georgische Schrift: Georgien (Georgisch)
- kyrillische Schrift: Bulgarien (Bulgarisch), Russland (Russisch), Serbien und Montenegro (Srbisch)
- lateinische Schrift: Belgien (Französisch, Niederländisch); Brasilien (Portugiesisch (brasilianisches)); Dänemark (Dänisch); Deutschland, Österreich (Deutsch); Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch); Estland (Estnisch); Finnland (Finnisch); Frankreich (Französisch); Großbritannien (Englisch); Italien (Italienisch); Kroatien (Kroatisch); Lateinamerika (außer Brasilien) (Spanisch); Lettland (Lettisch); Litauen (Litauisch); Niederlande (Niederländisch); Nordamerika (Englisch, Französisch, Spanisch); Norwegen (Norwegisch); Polen (Polnisch); Portugal (Portugiesisch (Portugal)); Rumänien (Rumänisch); Schweden (Schwedisch); Slowakei (Slowakisch); Slowenien (Slowenisch); Spanien (Katalanisch, Spanisch); Tschechische Republik (Tschechisch); Türkei (Türkisch); Ungarn (Ungarisch)
- thailändische Schrift: Thailand (Thailändisch)
Dr. Jörg Sieger
Anmerkungen