Interkulturelle Kompetenz

Herausforderung für unsere Gesellschaft


Weiter-Button Zurück-Button Gott bindet sich an Migranten

hebräischer Bibeltext

"Und es ereignete sich in jenen Tagen und Mose war herangewachsen und er ging hinaus zu seinen Brüdern und er sah ihre Fronarbeiten. Und er sah einen Ägypter erschlagend einen אִישׁ־עִבְרִי [">isch-<ibri"] von seinen Brüdern. Und wandte er sich so und so und er sah, dass niemand zugegen war und er erschlug den Ägypter und er verscharrte ihn im Sand. Und er ging hinaus am nächsten Tag und siehe zwei Männer der עִבְרִי ["<ibri"] stritten sich. Und er sagte zu dem im Unrecht gewesenen: "Warum schlägst Du Deinen Nächsten?" Und er sagte: "Wer hat Dich gesetzt zu einem Obersten und Richter über uns? Bist Du gedenkend mich zu töten, wie du getötet hast den Ägypter? Und Mose fürchtete sich, und er sagte: "Fürwahr, bekannt ist die Sache.""
Exodus (2. Buch Mose) 2,11-15

In zahlreichen Urkunden des Zweistromlandes begegnen um das 14. bzw. 13. Jahrhundert vor Christus Menschen, die mit einer ganz eigenartigen Bezeichnung belegt werden. Man nennt sie "Habiru" oder "Apiru".

Wer oder was sind "Habiru"?

In ganz ähnlicher Form kommt dieser Ausdruck in hetitischen und ugaritischen Texten vor. Auch in den ägyptischen Amarnabriefen taucht eine Bezeichnung auf, die in diese Richtung zu weisen scheint. Wir wissen zwar nicht, wie sie genau ausgesprochen wurde - man hat ja damals durchgehend nur die Konsonanten, also die Mitlaute geschrieben. Und deshalb ist es ungeheuer schwer, herauszubekommen, wie man ein Wort ausgesprochen hat, wenn man dieses Wort nicht kennt.

In diesen ägyptischen Briefen ist aber auffallend, dass der dort vorkommende Begriff in seinem Konsonantenbestand genau diesen erwähnten Bezeichnungen aus dem Vorderen Orient entspricht: Ein Buchstabe, der einen Kehllaut bezeichnet - ganz vereinfacht gesprochen eine Art "H" -, und dann die Buchstaben "P" und "R". Es handelt sich also um die gleiche Konsonantenfolge wie in den ugaritischen oder hetitischen Briefen.

Innerhalb weniger Jahrzehnte scheint im ganzen vorderen Orient eine Gruppe von Menschen aufgetaucht zu sein, die Ägypten, Syrien, Palästina und Mesopotamien, also die ganze damals bekannte zivilisierte Welt gleichsam überschwemmt hat. In allen bekannten Kulturen begegnen uns plötzlich diese "Apiru" oder "Habiru".

Was aber waren das für Menschen?

Es lässt sich zeigen, dass es sich hier nicht um etwas handelt, was wir mit Volk oder Nation bezeichnen würden. Diese Menschen sind nicht untereinander verwandt. Aber dennoch verbindet sie offenbar eines: Es scheint sich bei diesem Ausdruck in erster Linie um die Bezeichnung einer soziologischen Größe zu handeln.

"Habiru" scheint die Bezeichnung für Menschen zu sein, die offenbar nicht sesshaft waren. Vor allem aber waren sie Menschen, die nicht wirklich Rechte besaßen. ⋅1⋅

Was war geschehen?

Landkarte

Der sogenannte "Fruchtbare Halbmond"

Lizenz: User:NormanEinstein,
Fruchtbarer Halbmond map deutsch, CC BY-SA 3.0

Woher kamen plötzlich all diese Menschen?

Letztlich handelt es sich um ehemalige weidewechselnde Halbnomaden. Es waren Herdenbesitzer, die ursprünglich am Rande des Kulturlandes gelebt hatten. Wenn es in der Regenzeit genügend Nahrung in der Steppe gab, hielten sie sich mit ihren Kleinviehherden dort auf. Lediglich in der Trockenzeit zogen sie ins Kulturland, wo ihre Herden auf den abgeernteten Feldern noch ausreichend Nahrung fanden.

Im Rahmen der zweiten aramäischen Wanderwelle - also ab dem 14. vorchristlichen Jahrhundert -, drängten nun Nomadengruppen in das angestammte Wandergebiet genau dieser Menschen. Grund dafür waren langanhaltende Dürren gewesen, die dazu führten, dass die Wüstenregionen sich weiter ausbreiteten und die Weidegründe vieler Nomadenstämme immer mehr verdorrten.

Den ehemaligen Halbnomadengruppen war nun nach Ende der Trockenzeit die Rückkehr in ihre traditionellen Wandergebiete verwehrt. Dort hatten sich ja zwischenzeitlich jene anderen Gruppen, die vor den sich neu ausbreitenden Wüstengebieten geflohen waren, niedergelassen. Den Menschen, die mit ihren Herden bisher in diesen Gebieten gelebt hatten, blieb mit der Zeit nichts anderes übrig, als in großer Zahl im Kulturland zu bleiben und sich dort dauerhaft niederzulassen. Sie drängten demnach vollends in das Gebiet der kanaanäischen Stadtstaaten und der großen Hochkulturen.

Diese Ereignisse müssen den Angehörigen der damaligen Hochkulturen - so lässt die zahlreich erhaltene Korrespondenz vom Zweistromland bis zum Nil noch erahnen - wie eine Invasion erschienen sein. Die vielen Menschen, die plötzlich begannen, sich in den fruchtbaren Gebieten niederzulassen, sorgten überall für Unruhe und Aufregung.

Sie waren aber nicht nur wenig gelitten, man machte ihnen im Grunde jegliche Rechte streitig. Letztlich waren diese "Habiru" rechtlich schlechter gestellt als Sklaven. So wurden sie offenbar auch zu Dienstleistungen herangezogen. In einem ägyptischen Brief aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. ist etwa von Leuten die Rede,

"... die für den großen Pylon (= Eingangsturm eines ägyptischen Tempels) von Ramses Miamun Steine ziehen." ⋅2⋅

Hier also ist belegt, dass solche "Habiru" Fronarbeit für ägyptische Tempel leisteten.

Bezug zu biblischen Texten

Spätestens an dieser Stelle springt der Bezug zum zweiten Kapitel des Exodusbuches, also zum Bericht über die israelitischen Sklaven in Ägypten, förmlich ins Auge. In Exodus 2,11 heißt es schließlich, dass Mose zu seinen Brüdern hinausging und ihre Fronarbeit ansah. Dabei sah er, wie ein Ägypter einen אִישׁ־עִבְרִי [">isch-<ibri"], also einen Mann von den עִבְרִי ["<ibri"], einen von seinen Brüdern, schlug.

Wenn man auf die hebräische Bezeichnung עִבְרִי ["<ibri"] blickt - und hier vor allem auf den Konsonantenbestand des Wortes - dann fällt auf, dass die Folge der Konsonanten Ajin - Beth - Resch, aus denen das hebräische Wort besteht, der Konsonantenfolge des ägyptischen Wortes entspricht, das solche nicht sesshaften Menschen minderen Rechts bezeichnet, also gleichlautend ist mit der Konsonantenfolge des Wortes "Apiru" oder "Habiru". Im Deutschen hat sich dieses Wort unter der Bezeichnung "Hebräer" erhalten.

Ein Gott, der sich an Migranten bindet

Das aber hat eminente Bedeutung. Das hat ungeheure Auswirkungen auf das Bild, das die Bibel von diesem Gott zeichnet. Die späteren Israeliten, die Menschen, die Mose im Namen dieses Gottes aus Ägypten führt, das sind "Hebräer" - also keine "Rasse", keine nationale Größe, nicht einmal eine Volksgemeinschaft. Es sind "Hebräer", "Habiru", Angehörige einer sozialen Gruppe, die wir heute als Migranten, als - wenigstens - Nachfahren von "Wirtschaftsflüchtlingen" bezeichnen würden.

In der Folge schildert der biblische Bericht, wie sich dieser Gott an genau diese Menschen bindet. Mit ihnen schließt er einen Bund. Ihnen verheißt er, dass er sie in ein Land führen wird und ihnen neuen Lebensraum, neue Perspektiven für ihr Leben eröffnet.

Genau das drückt auch der biblische Bericht von der Namensoffenbarung dieses Gottes aus. Als Mose nämlich fragt, wer dieser Gott denn sei, bekommt er zur Antwort: אֶהְיֶה אֲשֶׁר אֶהְיֶה [">aehjaeh >ascher >aejhjaeh"] (Exodus (2. Buch Mose) 3,14). Meist wird dies mit "Ich bin der ich bin" oder "Ich bin der Ich bin da" übertragen. Dies aber greift viel zu kurz. Letztlich überträgt man diesen Ausdruck wohl am treffendsten mit: "Ich bin der, der für euch da ist, wann, wo und wie es auch sei!"

So will dieser Gott für diese Menschen sein. Er will ihnen Zukunft und Hoffnung sein. Er ist ihr Gott und sie - eine Gruppe von Migranten - sie sind sein Volk.

Das ist biblische Botschaft. Gott steht nicht nur auf der Seite des Abraham, der gezwungen ist, sein Heil in einem fremden Land zu suchen, er steht genauso auf der Seite der Habiru, auf der Seite von Menschen, denen man die Menschenrechte verweigerte und die Gott selbst deshalb aus dem Sklavenhaus herausführte. Er bindet sich an dieses Volk von Migranten, schließt einen Bund mit ihnen und führt sie in eine neue Heimat.

Gott stellt sich in der Bibel offenbar immer wieder aufs Neue auf die Seite von Migranten. Das lässt sich aus den biblischen Texten unschwer entnehmen. Das bedeutet aber nicht minder: Wenn wir auf einer anderen Seite stehen, stehen wir nicht auf der seinen ...

Dr. Jörg Sieger

Weiter-Button Zurück-Button Anmerkungen

1 Zu den Habiru vergleiche auch: Dirk Kinet, Geschichte Israels (= Die Neue Echterbibel - Ergänzungsband 2 zum Alten Testament) (Würzburg 2001) 30-33. Zur Anmerkung Button

2 TGI 2, Nr. 12, zitiert nach: Martin Metzger, Grundriß der Geschichte Israels (Neukirchen 5. Auflage 1979) 32. Zur Anmerkung Button