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Weiter-ButtonZurück-Button Die anordnenden Gattungen

Blicken wir zunächst also auf das, was Fohrer die "anordnenden Gattungen" nennt, also Textformen, die mit "Anordnungen" zu tun haben.

1. Die Lebenssprüche für den einzelnen und die Gemeinschaft ⋅1⋅

Als Vorstufe der "anordnenden Gattungen" gelten die sogenannten "Lebenssprüche für den einzelnen und die Gemeinschaft".

Das sind Sprüche, die eine bestimmte Situation oder auch das Leben der Israeliten begleiten sollten. Nicht zu verwechseln sind sie mit Wünschen. Wünsche bilden wieder eine eigene Gattung.

Schauen wir ein paar dieser Lebenssprüche an:

a. Lebenssprüche anlässlich der Geburt

Die Geburt eines Kindes, vor allem eines Sohnes, ist beispielsweise Haftpunkt für solche Redewendungen. Es heißt hier etwa:

"Fürchte dich nicht, auch diesmal hast du einen Sohn." (Gen 35,17⋅2⋅

Auch der Ausruf einer Mutter nach der Geburt gehört in die Reihe dieser Lebenssprüche. Ein Beispiel hierfür findet sich etwa in Gen 4,1:

"Ich habe einen Mann vom Herrn erworben." (Gen 4,1.)

Solche Sprüche konnten dann durchaus auch rechtsetzende Funktion haben. Etwa wenn es Ps 2,7 heißt:

"Mein Sohn bist du, ich habe dich heute gezeugt." (Ps 2,7.)

Solch ein Ausruf dient wohl ursprünglich der Legitimation ⋅3⋅ eines Kindes, zum Beispiel einer Sklavin.

b. Lebenssprüche im Zusammenhang mit der Hochzeit

Bei der Hochzeit hatten solche Formeln ebenfalls rechtsetzende Funktion. Zumindest aus der Spätzeit, nämlich aus dem Buch Tobit, haben wir eine solche Wendung überliefert.

"Hier empfange sie nach dem Gesetz Mose!" (Tob 7,13.)

So lautet der anordnende Spruch, mit dem der Vater die Frau ihrem Manne übergab wohl im 4. bzw. 3. vorchristlichen Jahrhundert.

"Sie ist nicht meine Frau, und ich bin nicht ihr Mann." (Hos 2,4.)

war wohl die Wendung, die für die Ehescheidung vorgesehen war. Sie ist als Glosse in das Buch Hosea eingefügt worden.

c. Stammessprüche

Neben diesen Lebenssprüchen für den einzelnen fallen eine ganze Reihe von Wendungen ins Auge, die sich auf israelitische Gemeinschaften oder deren Repräsentanten beziehen. Fohrer nennt sie "Lebenssprüche für die Gemeinschaft".

Auch sie stellen so etwas wie eine Hinführung zu den ausgesprochenen anordnenden Gattungen dar.

Zu diesen Sprüchen gehören die Stammessprüche, die im sogenannten Jakobsegen (Gen 49) gesammelt sind - wir haben schon verschiedentlich auf sie hingewiesen. Eine andere Sammlung liegt im sogenannten Mosesegen (Dtn 33) vor. Wir haben es hier mit wohl ursprünglich selbständigen Stammessprüchen zu tun, die später zusammengefasst und mit einem Rahmen versehen wurden.

Auch das Deboralied (Ri 5) enthält und verwendet solche Sprüche.

Als Beispiel für einen Stammesspruch nenne ich hier ganz einfach einmal Gen 16,11-12. Bei der Verheißung der Geburt des Ismael an die Hagar ist nämlich solch ein Spruch verarbeitet worden:

"Weiter sprach der Engel des Herrn zu ihr: Du bist schwanger, du wirst einen Sohn gebären und ihn Ismael (Gott hört) nennen; denn der Herr hat auf dich gehört in deinem Leid." (Gen 16,11)

Esel

Esel.

Foto-Button© Katholisches Bibelwerk Linz, Kapuzinerstr. 84, A-4020 Linz

Und nun folgt der Stam­messpruch:

"Er wird ein Mensch sein wie ein Wildesel. Seine Hand gegen alle, die Hände aller gegen ihn! Allen seinen Brüdern setzt er sich vors Gesicht." (Gen 16,12.)

Auffallend bei diesem Stammesspruch ist übri­gens der Tiervergleich: "Er wird ein Mensch sein wie ein Wildesel."

Wir haben einen solchen Tier­vergleich schon ein­mal im Jakobsegen, und zwar im Segensspruch über Issachar ken­nen­gelernt. Issachar wurde dort mit einem Lastesel verglichen. Es heißt in Gen 49:

"Issachar ist ein knochiger Esel, lagernd in seinem Pferch. Er sieht, wie die Ruhe so schön ist und wie so freundlich das Land..." (Gen 49,14-15a).

Solche Tiervergleiche weisen in die Zeit, die der (halb)nomadischen Lebensart der israelitischen Stämme nahesteht. Vielleicht sind sie teilweise noch in dieser Epoche, sicher aber bald nach der Landnahme entstanden.

Hier will der Vergleich ganz einfach sagen, dass Issachar wie ein fauler Esel war.

Die Fortsetzung des Issachar-Spruches bietet dann ein Wortspiel:

"... da neigt er die Schulter als Träger und wird zum fronenden Knecht." (Gen 49,15b.)

Hier werden die hebräischen Ausdrücke אִישׁ ["isch"], "Mann", und שָׂכִיר ["sakir"], was dem Wort "Tagelöhner" entspricht, zu einer weiteren Deutung des Schicksals Issachars herangezogen.

Solche Wortspiele dürften etwas jüngeren Datums sein.

d. Orakel-Sprüche und Jahwe-Bescheide und weitere Wendungen aus der Königszeit

Auch eine weitere Variante dieser Sprüche hat ihren Ursprung in der vorköniglichen Zeit. In der Zeit, als es noch kein stehendes Berufsheer gab, war die Kriegsführung stark mit religiösen Vorstellungen und Bräuchen verknüpft.

In dieses Umfeld gehören die "Orakel-Sprüche" oder "Jahwe-Bescheide", die auch zur Gattung der Lebenssprüche gehören.

Solche Sprüche können in der ersten oder dritten Person überliefert sein. Ein Beispiel für einen Jahwe-Bescheid in der ersten Person findet sich in Jos 6,2:

"Siehe, ich habe Jericho in deine Hand gegeben." (Jos 6,2.)

Hinter diesem Satz dürfte solch ein Jahwe-Bescheid stehen, den der Priester vor der Schlacht dem Feldherrn erteilt hat.

In der dritten Person wird von Jahwe in Jos 6,16 gesprochen:

"Jahwe hat euch die Stadt gegeben." (Jos 6,16.)

Auch einen Sieg stellte man mit solch einem formelhaften Spruch fest. Der immer wiederkehrende Ausdruck

"Jahwe hat den Feind unter unsere Füße gelegt" (vgl. 1 Kön 5,17; Ps 18,39; Ps 110,1.)

dürfte seinen "Sitz im Leben" am Ende der Schlacht haben, wenn mit diesem Ausruf offiziell das siegreiche Ende des Kampfes bezeichnet wurde.

Am Ende eines Krieges erscholl zur Entlassung des Heerbannes der Ruf:

"Jeder zu seinen Zelten, Israel!" ⋅4⋅

Auch bei einer Niederlage oder beim Abfall von einem verhassten Führer konnte dieser Ruf stehen.

Aus der Königszeit stammt dann die Akklamation "König geworden ist..." Sie galt dem neuen Repräsentanten des Staates und hatte ihren Platz nach der Einsetzung des neuen Herrschers (2 Sam 15,10).

Auch die Formel

"Fürchte dich nicht!",

die manchmal gewiss nur der Beruhigung oder Beschwichtigung dienen soll (1 Sam 28,12-13), konnte auffordernden oder anordnenden Charakter haben. Das gilt vor allem beim Erscheinen Jahwes oder seines Engels (Ri 6,23), bei der Verwendung im Krieg oder der Zusage des Schutzes durch einen Mächtigen (1 Sam 22,23).

2. Lebens- und Verhaltensregeln in apodiktischer Formulierung ⋅5⋅

Nach den Lebenssprüchen wenden wir uns nun wirklich anordnenden Gattungen zu, nämlich den Lebens- und Verhaltensregeln in apodiktischer Formulierung.

a. apodiktische Sätze

Dazu gehören vor allem Sätze im Stil des "tu dies!" oder "tu jenes nicht!". Sie bilden im Grunde eine Urform menschlischer Anordnung und finden sich eigentlich überall.

Im Alten Orient lassen sich für den (halb)nomadischen Lebensbereich darüber hinaus recht häufig Reihen von solchen gleichartig geformten Gebots- oder Verbotssätzen festmachen.

Solche Reihen umfassen mit Vorliebe zehn oder zwölf Glieder. Dies diente vor allem der leichteren Merkbarkeit. Zehngliedrige Reihen konnte man beispielsweise an den Fingern abzählen.

b. Levitikus 18

Ein Beispiel für solch eine Reihe liegt etwa in Lev 18 vor. Wir haben es hier vermutlich ursprünglich mit einem Dekalog zu tun, bei dem im Nachhinein ein Satz ausgefallen ist.

Auffallend ist der völlig parallele Aufbau der einzelnen Sätze.

"Die Scham deines Vaters, nämlich die Scham deiner Mutter, darfst du nicht entblößen. [...]
Die Scham der Frau deines Vaters darfst du nicht entblößen. [...]
Die Scham deiner Schwester, einer Tochter deines Vaters oder einer Tochter deiner Mutter, darfst du nicht entblößen [...]." (Lev 18,7-9.)

Solche Sätze entstammen den Lebensverhältnissen der (halb)nomadischen Großfamilie. Ihr Zusammenleben sollte durch Sittenregeln über die geschlechtliche Betätigung geschützt werden.

Die apodiktischen Satzreihen enthalten ursprünglich also nicht Rechtssätze, sondern Lebens- und Verhaltensregeln.

Ihr Ursprung liegt im vorjahwistischen Bereich des Nomadentums.

c. Der Dekalog in Ex 20,1-17 - Beispiel für eine sekundäre Reihe

Auch der in unserem Sprachgebrauch eigentliche Dekalog (Ex 20,1-17) ist eine solche Reihe von Verboten und Geboten, also von Anordnungen. Diese Reihe ist aber dann auf dem Boden des Jahwe-Glaubens erwachsen und sekundär aus mehreren ursprünglichen Reihen entstanden. ⋅6⋅

Fünf Verbote stammen anscheinend aus einer Reihe von Sätzen mit je 4 Hebungen. Sie behandeln die Pflichten gegenüber Jahwe und dem Nächsten:

I "Du sollst keinen 'anderen Gott' haben" ⋅7⋅
II "Du sollst dir kein Gottesbild machen."
III "Du sollt den Jahwe-Namen nicht zu Nichtigem aussprechen."
IX "Du sollst nicht als Lügenzeuge gegen deinen Nächsten aussagen."
X "Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten trachten."

Drei Verbote stammen vermutlich aus einer Reihe von Sätzen mit je 2 Hebungen ⋅8⋅:

VI "Du sollst nicht töten."
VII "Du sollst nicht ehebrechen."
VIII "Du sollst nicht stehlen."

Zwei Gebote stammen aus einer Reihe von Sätzen mit je 3 Hebungen:

IV "Gedenke an den Tag des Sabbats."
V "Ehre deinen Vater und deine Mutter."

Vermutlich wurde der Dekalog für die elohistische Quellenschicht des Pentateuchs zusammengestellt. Er ist also eine sogenannte "sekundäre Reihe". Durch den Vorspruch Ex 20,1 wurde er zu einer göttlichen Anordnung erklärt. ⋅9⋅

Der Elohist selber hat den Dekalog als eine Lebens- und Verhaltensregel für Israel proklamiert, indem sich das Volk nach seiner Darstellung dazu verpflichtete, alle Worte, die Jahwe geredet hat, zu befolgen, und diesen Entschluss durch einen Verpflichtungsakt bekräftigt (Ex 24,3ff).

d. Weitere Beispiele

  • Eine weitere sekundäre Reihe von Lebens- und Verhaltensregeln bildet der sogenannte kultische Dekalog in Ex 34,14-26. Er ist in der jetzigen Form jahwistischer Herkunft.
    Wahrscheinlich hat erst J diesen Dekalog zusammengefügt. Er kann von seiner formalen Struktur her kaum als selbständige Größe existiert haben und war anscheinend auch nicht zur kultischen Verkündigung bestimmt. ⋅10⋅
  • Tertiäre Reihen, also in Anlehnung an sekundäre, erst von den Autoren der Quellenschichten zusammengestellten Reihen, sind Lev 19,2-12und der von Ex 34 abhängige Dekalog Ex 23,10-19⋅11⋅

3. Rechtssprüche und -sätze ⋅12⋅

Nach den apodiktischen Formeln, die eher Lebensweisheiten als stringente Rechtsvorschriften sind, kommen wir nun zu den direkten Rechtssprüchen und Rechtssätzen.

a. Rechtssprüche

Hier haben wir zunächst die Rechtssprüche zu betrachten.

Das Gebiet der Rechtspflege weist mancherlei Bräuche auf. Solche Rechtsbräuche schlugen sich vor allem in spruchartigen Sätzen nieder. Diese sogenannten Rechtssprüche beziehen sich anscheinend vor allem auf den Mord oder die Todesstrafe. Manchmal wirken sie durch ihre metrische Gestaltung und die Verwendung des Lautanklangs feierlich und einprägsam. So etwa der Talionsspruch in Gen 9,6:

"Wer Menschenblut vergießt, durch Menschen sei sein Blut vergossen." (Gen 9,6.)

Wenn der Täter unbekannt blieb, so hatten die Ältesten der Ortschaft nach Dtn 21,7-8 zu sprechen:

"Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen, und unsere Augen nichts gesehen." (Dtn 21,7-8.)

In 1 Kön 21,13 scheint uns eine Anklageformel überliefert worden zu sein:

"Er hat Gott und den König gelästert." (1 Kön 21,13.)

Auch Rechtssprüche im Privatrecht sind bekannt. Dtn 25 enthält beispielsweise einen Rechtsspruch einer Witwe. Wenn ihr der Bruder des verstorbenen Gatten die Schwagerehe verweigerte, die ihr die fehlende Nachkommenschaft verschaffen sollte, so erklärte sie:

"So geschehe jedem, der nicht das Haus seines Bruders bauen will." (Dtn 25,9.)

Gleichzeitig zog sie dem Schwager den Schuh aus und spuckte ihn an.

b. Reihen von Rechtssätzen

Viele solcher Rechtssprüche sind nach dem Vorbild der Reihen von apodiktischen Lebens- und Verhaltensregeln zu Reihen von Rechtssätzen zusammengestellt worden.

Sie stellen kurz und knapp das Verbrechen und die dazugehörige Strafe fest.

Diese Rechtssätze sind vor allem an zwei Stellen überliefert:

  • zum einen haben wir die sogenannte "Mot-jumat-Reihe", die im Bundesbuch und Heiligkeitsgesetz verstreut ist:
    "Der seinen Vater und seine Mutter Verfluchende soll unbedingt getötet werden." ⋅13⋅
  • dann gibt es die Fluchreihe, in der Strafandrohungen mit den Worten "Verflucht ist..." eingeleitet werden (Dtn 27,15-26). ⋅14⋅

c. kasuistische Rechtssätze

Ganz dem üblichen altorientalischen Stil folgen die sogenannten "kasuistischen Rechtssätze". Sie erläutern verschiedene Rechtsfälle in ihren Einzelheiten und versuchen das tägliche Leben und das kultische Verhalten zu regeln.

In diesen kasuistischen Sätzen ist zunächst weithin altorientalisches und insbesondere kanaanäisches Recht ganz einfach übernommen worden. Diese übernommenen Rechtssätze wurden dann aber nicht selten unter dem Einfluss des Jahwe-Glaubens abgewandelt.

Der Prozess der Übernahme und Abwandlung solcher Rechtssätze hat vermutlich unmittelbar nach der Landnahme begonnen. Infolge der sich wandelnden Lebensbedingungen wurden dann im Laufe der Zeit zahlreiche weitere Rechtssätze dieser Art gebildet.

Die Übernahme oder auch die Neubildung erfolgte

  • in der älteren Zeit sicher durch die Ältesten, die Sippen- und die Stammeshäupter,
  • dann sicher auch durch die Priester,
  • später dann durch die תּוֺפְשֵׂי ["topese"] der Tora, also die Leute, die "die Tora handhaben", die man etwa mit den Schriftgelehrten des Frühjudentums vergleichen kann,
  • und letztendlich natürlich auch durch die Könige.

Bei der Verschriftung der Pentateuchquellen fallen vor allem zwei Arten auf, wie solche kasuistischen Rechtssätze dann in den Text hineingearbeitet wurden.

Zum einen konnten sie in die bereits bestehenden Reihen der kurzen Rechtssätze ganz einfach eingeschoben werden, wenn es sich vom Sinn her ergab.

In die Mot-jumat-Reihe in Ex 21 wurde beispielsweise nach dem Satz vom Totschlag, die Asylvorschrift interpoliert.

Also hinter den apodiktischen Spruch:

"Wer einen Menschen so schlägt, dass er stirbt, wird mit dem Tod bestraft." (Ex 21,12.)

wurde der kasuistische Rechtssatz hinzugefügt:

"Wenn er es nicht vorsätzlich getan hat [...], will ich eine Stätte bestimmen, wohin er fliehen kann. Wenn er aber einem anderen mit Hinterlist freventlich getötet hat, dann reiße ihn von meinem Altar, dass er sterbe." (Ex 21,13-14.)

Oder man hat - das ist die zweite Möglichkeit - ähnliche Rechtsvorschriften miteinander kombiniert. Ex 21,2-4 ist solch eine Kombination von kasuistischen Rechtssätzen erhalten:

"Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, muss er dir sechs Jahre dienen; im 7. Jahre wird er unentgeltlich freigelassen. Wenn er allein eintritt, soll er allein gehen; wenn er verheiratet war, soll seine Frau mit ihm gehen." (Ex 21,2-3.)

Jetzt wechselt der Text plötzlich von der 2. in die 3. Person:

"Wenn sein Herr ihm eine Frau gegeben und sie ihm Söhne oder Töchter geboren hat, sollen die Frau und ihre Kinder seinem Herrn gehören, und er soll allein gehen." (Ex 21,4)

Ein Hinweis dafür, dass beide Sätze ursprünglich nicht im gleichen Textzusammenhang gestanden haben, sondern selbständig waren.

d. Die ätiologische Rechtserzählung

Mit den Rechtssätzen steht schließlich die ätiologische Rechtserzählung im Zusammenhang. In ihr werden Rechtsbräuche der Gegenwart auf Handlungen, die die Vorfahren unternommen haben sollen, zurückgeführt.

Ein Beispiel dafür ist die Erzählung vom Pascha in Ägypten. Hier wird durch diese Rechtserzählung ein kultischer Brauch festgelegt, also eine Erzählung die ohne Zweifel anordnenden Charakter hat. Das wird beispielsweise in Ex 12,25-27 ganz deutlich:

"Wenn ihr in das Land kommt, das euch der Herr gibt, wie er gesagt hat, so begeht diese Feier! Und wenn euch eure Söhne fragen: Was bedeutet diese Feier?, dann sagt: Es ist Pascha-Opfer zu Ehre des Herrn, der in Ägypten an den Häusern der Israeliten vorüberging, als er die Ägypter mit Unheil schlug, unsere Häuser aber verschonte." (Ex 12,25-27a.)

Auf ähnliche Weise wird Ex 13,14-15 die Opferung bzw. Auslösung der Erstgeburt begründet.

Auch von Rechtsfällen und Rechtsentscheidungen erzählt man in dieser Form. Der eigentliche Zweck der angeblichen Erzählung tritt dabei überdeutlich zutage. Es geht um die Regelung eines bestimmten Sachverhaltes.

Beispiele hierfür sind:

  • Die Anordnung für diejenigen, die am Psachatag unrein oder auf Reisen sind, das Paschafest nachzufeiern (Num 9,1-14)
  • die Anordnung der Steinigung eines Sabbatschänders (Num 15,32-36)
  • und die Sicherung der Rechte der erbberechtigten Töchter (Num 27,1-11; Num 36,1-13)

4. Mit Gerichtsverhandlungen zusammenhängende Redeformen ⋅15⋅

Mit der Gerichtsverhandlung hängen darüber hinaus zahlreiche Redeformen zusammen, die sich im Zusammenhang mit dem Gerichtswesen entwickelt haben. Es gibt viele Beispiele hierfür.

Häufig werden sie in der prophetischen Verkündigung verwendet.

Es lassen sich hier vier Formen unterscheiden.

a. Redeformen der Auseinandersetzung vor der Verhandlung

Als erstes sind hier die Redeformen der Auseinandersetzung vor der Verhandlung zu nennen:

  • die Aufforderung zur Herausgabe des Beklagten,
  • die Beschuldigungsformel,
  • die Beschwichtigungsformel in der vorgerichtlichen Auseinandersetzung,
  • die Redeformen mit dem Ziel der Verhinderung des Prozesses,
  • die Appellationsreden des Beschuldigten,
  • die Appellationsreden des Beschuldigers,
  • die Reden zur Einleitung eines Feststellungsverfahrens.

b. Redeformen beim Gerichtsverfahren im Strafprozess

Als zweites gibt es dann die Redeformen beim Gerichtsverfahren im Strafprozess:

  • die Anklagereden,
  • die Verteidigungsreden in eigener und in fremder Sache,
  • die Geständnisformulierungen,
  • und die Schlichtungsvorschläge.

c. Redeformen am Schluss der Verhandlung

Als drittes lassen sich die Redeformen am Schluss der Verhandlung abgrenzen:

  • die verschiedenen Formen des Urteils
  • und die Tatfolgebestimmung.

d. Redeformen bei familien- und vermögensrechtlichen Verfahren im Zivilprozess

Und viertens lassen sich Redeformen bei familien- und vermögensrechtlichen Verfahren im Zivilprozess erfassen: ⋅16⋅

  • es handelt sich hier vor allem um die Kaufaufforderung,
  • und das formalrechtlich als Brautkauf bezeichnete Verfahren.

Aus all dem wird ersichtlich, in welch starkem Maß das Rechtsleben das Dasein des Israeliten bestimmt hat.

5. Verträge ⋅17⋅

Eine weitere Form der anordnenden Gattungen bilden die Verträge.

Verträge haben in Israel, wie im ganzen Alten Orient, eine bedeutende Rolle gespielt. Das Alte Testament erzählt allerdings meist nur von Vertragsabschlüssen, ohne die Verträge selber mitzuteilen.

a. Vertragsarten

Formal lassen sich vier verschiedene Arten von Verträgen unterscheiden:

  • Der zweiseitige Vertrag zwischen zwei gleichen Partnern. Durch ihn wurden - vor allem in der älteren Zeit - zwei Vertragspartner gleichsam durch ein Gemeinschaftsband verbunden. Im Vertrag wurden die Rechte und die Pflichten aufgeführt, die das gegenseitige Verhältnis der Zusammengehörigkeit ausdrücklich machten.
  • Als zweites gibt es den Vertrag der Selbstverpflichtung eines Mächtigen. Durch ihn wird ein Schwächerer in ein Verhältnis zu diesem Mächtigeren gesetzt. Der Mächtige nimmt dabei bestimmte Bedingungen auf sich, während der schwächere Vertragspartner lediglich Empfänger ist, also keine aktive Bedeutung im Vertragsgeschehen hat.
  • Die dritte Art ist der Suzeränitäts- oder Vasallenvertrag. In ihm werden dem schwächeren Vertragspartner Verpflichtungen auferlegt, während sich der Mächtige auf allgemeine Treueversprechen beschränkt. Vor allem die Verträge, die die Hetiter als Lehnsherren ihren Vasallen auferlegten, sind Beispiel für diese Vasallenverträge.
  • Aus einem Mari-Briefen ergibt sich eine vierte Vertragsart. Ein Dritter kann nämlich auch einen Vertrag zwischen zwei anderen stiften. Über die Verpflichtungen der mit dem Vertrag Bedachten wird allerdings nichts gesagt.

b. Riten beim Vertragsabschluss

Beim Abschluss solcher Verträge werden nicht nur deren Bedingungen festgelegt, sondern auch mancherlei Riten ausgeübt.

  • Dazu gehört das Vermischen des Blutes der Partner,
  • oder das Versprengen von Blut (Ex 24,8),
  • der Handschlag (Ez 17,18),
  • der Tausch von persönlichem Eigentum (1 Sam 18,3-4),
  • das Errichten einer Stele (Jos 24,26),
  • der Schwur (Gen 21,22-24),
  • das Mahl (Ex 24,11)
  • oder das Teilen von Opfertieren und Hindurchschreiten der Vertragspartner, wie es in Gen 15,9-21 beschrieben wird. Durch diesen Vorgang dokumentierte man, dass es dem, der den Vertrag bricht, genauso ergehen solle, wie den auseinandergeschnittenen Opfertieren (Vgl. hierzu ganz besonders Jer 34,18).

c. Vertragspartner

Hinsichtlich der Personen oder Kreise, zwischen denen im AT derartige Verträge geschlossen werden können, ergeben sich drei Arten von Vertragspartnern:

  • Verträge werden zwischen staatlichen Gemeinschaften oder ihren Repräsentanten geschlossen.
    • Ein Beispiel hierfür ist der Vertragsabschluss zwischen Salomo und dem König von Tyrus in 1 Kön 5,16-32. Dieser Abschnitt ist wohl auch im Anschluss an die entsprechende Vertragsurkunde formuliert worden.
    • Auf die gleiche Art und Weise muss man die Verträge Abrahams und Isaaks mit Abimelech von Gerar (Gen 31,44-54) verstehen.
    • Die Abschrift einer ganze Vertragsurkunde liegt in 1 Makk 8,22-32 vor.
  • Verträge werden auch bei der Königswahl oder der Einsetzung eines Königs zwischen dem künftigen Herrscher und der Volksversammlung oder deren Repräsentanten geschlossen.

  • Häufig wird auch von Verträgen zwischen Einzelpersonen erzählt.

    • Ein Beispiel dafür sind die Verträge über die Grundstückskäufe Abrahams (Gen 23), Jeremias (Jer 32) und des Boas (Rut 4).
    • Die Verhandlungen werden in aller Regel ausführlich geschildert. Aus den Vertragsurkunden selbst wird jedoch kaum etwas angeführt (vielleicht Gen 23,16-17). In Jer 32 wird zumindest erwähnt, dass die Vertragsurkunde zweifach ausgefertigt wurde.
    • Tob 7,13 erwähnt den Heiratsvertrag.
    • Jer 3,8 erwähnt die Scheidungsurkunde.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 69-72. Zur Anmerkung Button

2 Vgl. auch 1 Sam 4,20. Zur Anmerkung Button

3 Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 69-72. Zur Anmerkung Button

4 Vgl.: 2 Sam 18,17; 2 Sam 19,9; 2 Sam 20,22; 1 Kön 12,16. Zur Anmerkung Button

5 Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 72-75. Zur Anmerkung Button

6 Die Versuche, einen Urdekalog mit 10 gleichmäßig gebauten Sätzen herzustellen, indem man eine Kurzfassung aus je zwei Wörtern [B. Couroryer] oder eine einheitliche längere Fassung durch Erweiterung der Kurzverbote und Umwandlung der Gebote annimmt [außer Alt und Rabast vgl. noch E. Sellin, Geschichte des israelitisch-jüdischen Volkes, I, 21935, 83f], müssen wegen der einschneidenden Textänderungen als willkürlich abgelehnt werden.
(Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 73.) Zur Anmerkung Button

7 Das jetzt den Satz schließende "neben mir" bzw. "gegen mich" ist eine spätere Erweiterung.
(Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 74.) Zur Anmerkung Button

8 Vgl. auch Jer 7,9; Hos 4,2 sowie Jos 7,11; Lev 19,11 (Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 74). Zur Anmerkung Button

9 Obschon die Verbote I-III aus der Mosezeit stammen könnten und andere Anordnungen sogar in der vormosaischen Zeit möglich wären, scheidet angesichts des sekundären Charakters der Reihe Mose als Urheber aus. An eine kultische Entstehung oder Zweckbestimmung ist nicht zu denken. Ebenso wenig liegt eine Rechtssatzung vor.
(Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 74.) Zur Anmerkung Button

10 Er enthält einmal vier positiv formulierte apodiktische Anordnungen für besondere Tage des Jahres (Verse 18aa. 21a. 22aa. 26a) zum anderen sechs negativ formulierte apodiktische Anordnungen. Von diesen befassen sich vier Sätze wiederum mit Fragen des Opferwesens (Vers 20bb. 25a. 26b) während die restlichen zwei den beiden ersten Versen von Ex 20 entsprechen (Verse 14a. 17). Die beiden ersten Gruppen können judäischen Heiligtumsregeln entstammen, zumal sie die palästinisch-kanaanäische Situation voraussetzen (Verse 18aa. 22aa. 26).
(Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 74-75.) Zur Anmerkung Button

11 Die meisten Kurzreihen mit weniger als 10 Sätzen sind durchweg wie die genannten sekundären und tertiären Reihen zu beurteilen. In einem vierten Stadium sind schließlich in späterer Zeit weitere Reihen nach dem Muster der älteren künstlich gebildet worden. Zur Anmerkung Button

12 Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 75-77. Zur Anmerkung Button

13 Vgl.: Ex 21,12. 15-17; 22,18-19; Lev 20,2. 9-13. 15-16. 27; 24,16. Zur Anmerkung Button

14 Diese Fluchreihe ist wegen ihrer Abhängigkeit von Lev 18, der Mot-jumat-Reihe und den sozial-ethischen Gedanken der deuteronomischen Theologie wohl in der Zeit der letzteren entstanden.
Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 76.) Zur Anmerkung Button

15 Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 77. Zur Anmerkung Button

16 Zumal das Gerichtsforum wie durchweg im Alten Orient notarielle Funktionen ausübte.
(Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 77.) Zur Anmerkung Button

17 Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 77-80. Zur Anmerkung Button

18 Auch 1 Sam 10,11; 10,21b-27a; Hos 6,7-11a; 10,3-4 setzen den Königsvertrag voraus oder erwähnen ihn.
(Vgl.: Georg Fohrer, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg 12. Auflage 1979) 78. Zur Anmerkung Button