Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Das Neue Testament und der alttestamentliche Kanon ⋅1⋅
- 1. Die Dreiteilung des Alten Testamentes
- 2. Nicht alle alttestamentliche Schriften im Neuen Testament belegt
- 3. Zitation apokrypher Schriften
- 4. Fazit
Die weitere Entwicklung müssen wir nun im Einzelnen verfolgen. Schauen wir dazu zunächst auf die neutestamentlichen Schriften. Wie wird das Alte Testament in ihnen rezipiert.
1. Die Dreiteilung des Alten Testamentes
Die beiden ersten Teile des Alten Testamentes werden im Lukas-Evangelium ausdrücklich genannt. Lk 24,27 erwähnt Mose und die Propheten. Lukas scheint sogar die Dreiteilung des Alten Testamentes zu kennen. Lk 24,44 wird die Schrift nämlich mit den Worten "Mose, die Propheten und die Psalmen" umschrieben.
Damit hätte zumindest das Lukas-Evangelium die hebräische Bibeleinteilung zugrundegelegt. Unbeschadet dieser Tatsache, zitiert natürlich auch Lukas nach der Septuaginta.
2. Nicht alle alttestamentliche Schriften im Neuen Testament belegt
Allerdings zitiert das Neue Testament nicht alle Schriften des Alten Testamentes in gleicher Weise.
Zum einen findet sich kein Zitat aus deuterokanonischen Schriften. Dies wurde immer wieder als Argument angeführt, dass das Neue Testament diese griechisch überlieferten Bücher nicht als kanonisch betrachtet habe.
Allerdings spielen mehrere Stellen auf deuterokanonische Texte an ⋅2⋅:
- Jak 1,19 auf Sir 5,11,
- 1 Petr 1,6-7 auf Weish 3,5. 7,
- Hebr 11,34-35 auf 2 Makk 6,18-7,42,
- Hebr 1,3 auf Weish 7,26.
Die Zitation von Büchern oder das Nichtzitieren aus Büchern des Alten Testamentes ist darüber hinaus natürlich auch grundsätzlich noch kein Kriterium für die Kanonizität dieser Bücher.
So werden acht protokanonische Schriften des Alten Testamentes im Neuen Testament ebenfalls nicht zitiert:
- Rut,
- Esra,
- Nehemia,
- Ester,
- Obadja,
- Nahum,
- Kohelet
- und das Hohe Lied.
3. Zitation apokrypher Schriften
Andererseits wird an einer Stelle im Neuen Testament ein Buch zitiert, das nicht einmal unter den deuterokanonischen Schriften zu finden ist.
Judas 14-15 rekurriert auf das apokryphe Hennochbuch (Hen 1,9). Dieses Buch kann höchstens in einigen esoterisch, apokalyptischen Kreisen als kanonisch angesehen worden sein. Seine Zitation ist nie als Beweggrund dafür gewertet worden, dass auch dieses Buch in den offiziellen Kanon der alttestamentlichen Schriften hätte aufgenommen werden sollen.
An drei anderen Stellen des Neuen Testamentes scheinen weitere apokryphe Texte zitiert worden zu sein. Sie sind uns im einzelnen nicht mehr erhalten. Zumindest bei zwei dieser Zitate gehen die neutestamentlichen Verfasser allerdings wohl davon aus, dass es sich bei jener Schrift um einen kanonischen Text handelt. ⋅3⋅
Offensichtlich gab es also in neutestamentlicher Zeit auch Schriften, die kanonischen Rang hatten, allerdings weder in den hebräisch-jüdischen Kanon aufgenommen wurden, noch in der späteren christlichen Tradition kanonischen Rang zuerkannt bekamen. Ob der kanonische Rang dieser Schriften in neutestamentlicher Zeit allgemein anerkannt war, oder ob es sich hier vielmehr um die Ansicht gewisser Kreise handelte, ähnlich wie beim Hennoch-Buch etwa, muss hier offen bleiben.
Möglicherweise war also gerade der dritte Teil der hebräischen Bibel in neutestamentlicher Zeit noch gar nicht abgeschlossen.
4. Fazit
Insgesamt müssen wir für das Neue Testament also sagen, dass von hier aus kein bestimmter Kanon vorausgesetzt wird. Man kann vom Neuen Testament her also nicht auf die einzige Gültigkeit des "Canon Esdrinus", des Septuaginta-Kanons oder eines anderen, hypothetischen Kanons schließen.
Fazit der Beobachtungen in und am Neuen Testament ist eigentlich nur, dass die meisten der heutigen alttestamentlichen Bücher - und vielleicht sogar alle - zur Zeit der jungen Christengemeinde bereits kanonisches Ansehen genossen.
Anmerkungen
(Vgl.: Lothar Ruppert, Einleitung in das Alte Testament (Teil I) - autorisierte Vorlesungsmitschrift (WS 1984/85) 32.)