Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Das Problem des umfangreicheren Septuaginta-Kanon ⋅1⋅
- 1. Die Entstehung der Septuaginta
- 2. Der Umfang der Septuaginta
- 3. Zweiter jüdischer Kanon oder rein christliche Sammlung?
- a. Die traditionelle Auffassung
- b. Die Auffassung Johann Goettsbergers
- c. Zur Diskussion der Thesen Goettsbergers
- 4. Zum Verhältnis des Septuagintakanons zur hebräischen Bibel
Die sogenannte Septuaginta (LXX) ist die älteste vorchristliche Übersetzung des Alten Testamentes. Ihre Entstehung ist auf dem Hintergrund der alexandrinischen Diaspora-Gemeinde zu denken.
1. Die Entstehung der Septuaginta ⋅2⋅
Alexander der Große in der Schlacht bei Issos,
Detail eines Mosaiks aus Pompeji -
Museo Archeologico Nazionale in Napoli.
Vom 5. Jahrhundert v. Chr. an begannen sich die Juden nämlich verstärkt in Alexandria niederzulassen. Nach dem Fall Samarias und Jerusalems hatten bereits viele versucht, den Babyloniern durch die Flucht nach Ägypten zu entgehen.
Durch den Feldzug Alexanders begünstigt, entsteht dann endgültig eine blühende jüdische Kolonie in Alexandria. Diese Kolonie war aber vor allem griechisch geprägt.
Von daher wurden bereits sehr bald griechische Übersetzungen der alttestamentlichen Schriften notwendig.
Nun erzählt eine Legende, die im Brief des Aristeas überliefert wurde, dass im 3. Jahrhundert v. Chr. auf Befehl des ägyptischen Königs Ptolemäus Philadelphus eine griechische Übersetzung des Pentateuchs bzw. der alttestamentlichen Schriften angefertigt worden wäre.
Dazu hätte man 72 Männer, sechs aus jedem israelitischen Stamm, auf die Insel Pharus gebracht und völlig abgesondert von einander die hebräischen Texte übersetzen lassen.
Auf wunderbare Weise hätten alle den hebräischen Text mit genau den gleichen Worten übersetzt. Daraufhin sei klar gewesen, dass diese Übersetzung die richtige Übertragung ins Griechische sein müsse.
Das Ergebnis hätte man dann nach den 72 Übersetzern, wobei man im Namen ganz einfach zwei unterschlagen hat, "Septuaginta" genannt.
In Wahrheit ist der griechische Text natürlich langsam gewachsen. Wahrscheinlich waren erst bis ca. 130 v. Chr. alle Bücher übersetzt. ⋅3⋅
2. Der Umfang der Septuaginta
Wenn wir die Septuaginta, so wie sie uns heute überliefert ist, ansehen, dann fällt zunächst auf, dass diese Sammlung alttestamentlicher Schriften umfangreicher ist als der hebräische Kanon. Eine Reihe von Büchern, die im heutigen jüdischen Kanon nicht enthalten sind, werden in der Septuaginta als kanonisch betrachtet. Dazu gehören:
- das Buch Baruch,
- das Buch Tobit,
- das Buch Judit,
- das Buch der Weisheit,
- das Buch Jesus Sirach,
- die beiden Makkabäer-Bücher,
- und Teile der Bücher Ester
- und Daniel.
3. Zweiter jüdischer Kanon oder rein christliche Sammlung?
a. Die traditionelle Auffassung
Bisher ging man nun allgemein davon aus, dass der heutige Septuaginta-Text identisch mit der bei den alexandrinischen Juden gebräuchlich gewesenen Bibel-Übersetzung ist.
Da diese Sammlung alttestamentlicher Schriften umfangreicher ist als der hebräische Kanon, glaubte man daher, schon im jüdischen Raum zwei verschiedene Kanones annehmen zu müssen. Die Septuaginta wäre demnach ein Zeugnis dafür, dass der Kanon der alexandrinischen Juden im Vergleich zum hebräischen Kanon umfangreicher gewesen wäre.
Sie wäre demnach ein zweiter Kanon, ein δεύτερος κανών "deúteros kanón".
Allgemein ging man dann davon aus, dass dieser zweite Kanon von den Juden später verworfen wurde. Den Grund dafür sah man insbesondere in der Tatsache, dass die Christen die Septuaginta mehr und mehr als ihre heilige Schrift ansahen.
b. Die Auffassung Johann Goettsbergers
An dieser gebräuchlichen Theorie wurden allerdings Zweifel laut. Johann Goettsberger ging noch davon aus, dass die Septuaginta lediglich in christlichen Handschriften vorliegen würde. Im jüdischen Bereich seien schließlich alle Handschriften im Zusammenhang mit der Arbeit der Masoreten vernichtet worden.
Von den christlichen Septuaginta-Handschriften, von denen die ältesten aus einer Zeit um 400 n. Chr. stammen, könne man nach Goettsberger nun aber nicht mehr darauf zurückschließen, wie die griechische Bibel der alexandrinischen Juden ursprünglich einmal ausgesehen habe.
Goettsberger geht daher davon aus, dass auch die alexandrinische Bibel nicht mehr Bücher umfasst habe, als im späteren offiziellen jüdischen Kanon. Die spätere Septuaginta - so wie sie uns bis heute überliefert ist - sei ein Werk der christlichen Tradition.
Als Argument für diese These führt Goettsberger darüber hinaus an, dass der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien, der um 40 n. Chr. starb, die deuterokanonischen Schriften, also diejenigen Schriften, die einzig und allein im heutigen Kanon der Septuaginta überliefert werden, nicht zitiert. Das ist für Goettsberger ein Hinweis darauf, dass diese Schriften in der griechischen Bibelübersetzung, die die alexandrinischen Christen zur Zeit Philos benutzten, auch noch nicht vorlagen.
c. Zur Diskussion der Thesen Goettsbergers
Die Argumente Goettsbergers überzeugen allerdings nicht. Schon aus der Tatsache, dass Philo keine deuterokanonischen Schriften zitiert hat, kann man nicht darauf schließen, dass es gar keine solche Schriften gegeben habe. Dies ist ein Zirkelschluss, der wohl wenig stichhaltig ist. Auch sind mittlerweile Tora-Fragmente aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. in Palästina und Ägypten entdeckt worden. Sie erhellen die Zeit vor den christlichen Ausgaben und machen deutlich, dass die Entwicklung weit komplizierter ist, als die traditionelle Auffassung das glauben machen möchte. Die Septuaginta scheint nämlich keinen streng ausgeprägten Kanon von Schriften gekannt zu haben. ⋅4⋅
Alte Septuaginta-Handschriften enthalten interessanterweise auch Bücher, die im späteren christlichen Kanon nicht mehr auftauchen. So begegnen auch das 3. und das 4. Makkabäer-Buch in einigen Handschriften der Septuaginta.
Auch die Reihenfolge der einzelnen Schriften ist in den einzelnen Handschriften nicht immer die gleiche.
4. Zum Verhältnis des Septuagintakanons zur hebräischen Bibel
So kann man vielleicht davon ausgehen, dass das Werden der Septuaginta im ersten Jahrhundert n. Chr. noch nicht abgeschlossen war. Vermutlich wurde die Entstehung und endgültige Formung dieser griechischen Übersetzung des Alten Testamentes durch die zeitgeschichtlichen Ereignisse überrollt.
Während der Pentateuch sicher als erstes übersetzt worden war und wohl auch recht früh in seiner griechischen Fassung als kanonisch betrachtet wurde, scheinen die übrigen Schriften des alten Testamentes erst nach und nach übersetzt worden zu sein. Aber auch sie scheinen dann - eben nach und nach - ebenfalls kanonisches Ansehen bekommen zu haben. ⋅5⋅
Wir hätten es dann also tatsächlich mit einer Sammlung von heiligen Schriften zu tun, die bereits in jüdischer Zeit als kanonisch galten und durchaus Unterschiede zum hebräischen Kanon aufwiesen.
Darauf weist bereits die prinzipiell andere Anordnung der Bücher der Septuaginta im Vergleich zum hebräischen Kanon hin.
Der palästinisch-hebräische Kanon ordnet die Schriften ja nach ihrer vermeintlichen Entstehungszeit ein. Der alexandrinisch-griechische sortiert die Schriften nach dem Schema Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
So kommen in der Septuaginta zuerst die geschichtlichen, dann die weisheitlichen und zum Schluss die prophetischen Schriften. ⋅6⋅
Wir können also durchaus auf eine eigenständige Entwicklung des griechischen Kanons schließen. Dieser Prozess war aber noch nicht zu Ende, als die Christen im 1. Jahrhundert n. Chr. die Septuaginta als ihre heilige Schrift übernahmen und Jerusalem durch die Römer zerstört wurde.
Vor allem das letzte Ereignis führte nun dazu, dass die Juden sich ganz auf den hebräischen Kanon konzentrierten. Er erhielt erst jetzt seine endgültige Gestalt.
Die Entwicklung des hellenistischen Kanons wurde nun aber im christlichen Bereich weiterbetrieben. Erst im Verlauf der Geschichte der christlichen Kirche kam sein Entwicklungsprozess zu einem Abschluss.
Anmerkungen
(Vgl.: Alfons Deissler, Einleitung in das Alte Testament - Zusammenschrift entsprechend einer autorisierten Vorlesungsmitschrift des WS 1969/70 bzw. einer nicht autorisierten Mitschrift anhand von Bandaufnahmen des WS 1976/77 mit teilweisen Ergänzungen für das WS 1979/80 (Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. Br.) 20.)
(Vgl.: Lothar Ruppert, Einleitung in das Alte Testament (Teil I) - autorisierte Vorlesungsmitschrift (WS 1984/85) 30.)
(Vgl.: Otto Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament (Tübingen 3. Auflage 1964) 773.)