Die Bibel

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Weiter-ButtonZurück-Button Die Eigenart der Evangelien ⋅1⋅

Auf dem bisher skizzierten geschichtlichen, geistig-religiösen und sozialen Hintergrund müssen wir uns das öffentliche Wirken des Jesus von Nazaret vorstellen. Wie dieser Jesus von Nazaret nun aber genau war, das ist eine Frage, die unserem Zugriff weithin entzogen bleibt.

Auch wenn wir gemeinhin glauben, durch die Berichte des Neuen Testamentes ausführlich unterrichtet zu sein, so müssen wir uns zunächst doch klar machen, dass trotz der Fülle der Überlieferung, die historische Gestalt des Jesus von Nazaret kaum mehr zu fassen ist.

Unsere Evangelien sind nämlich - das muss man unbedingt berücksichtigen - nicht einfach Geschichtsschreibung. Sie berichten nicht im Sinne einer wissenschaftlich exakten Biographie über Jesus von Nazaret. Sie sind eine eigene Literaturgattung, die gesondert zu betrachten ist. Um sie im rechten Licht erscheinen zu lassen, muss man daher zunächst die Eigenart dieser Gattung sehen.

1. Geschichtliches Interesse der Evangelien

Der See Gennesaret

Der See Gennesaret.

Foto-Button© Katholisches Bibelwerk Linz, Kapuzinerstr. 84, A-4020 Linz

Es besteht kein Zweifel, dass die Evangelien - al­len voran die drei Synoptiker, also Mat­thäus, Markus und Lukas - so etwas wie "ge­schicht­liche In­ter­es­sen" vertreten.

Das geschichtliche In­ter­es­se der Synoptiker er­kennt man bereits klar bei einem ober­fläch­li­chen Vergleich mit der neu­testamentlichen Brief­literatur, etwa den Pau­lusbriefen.

Aussagen von und über den irdischen Jesus spielen in den Briefen, von ganz wenigen Beispielen abgesehen, keine Rolle. Unabhängig von der Frage, ob Paulus beispielsweise die synoptische Tradition kannte oder nicht, fällt von vorneherein auf, dass er sie so gut wie nicht verwendet.

Die Evangelien hingegen bringen immer wieder Worte und Taten des irdischen Jesus in den Blick.

2. Die Grenzen der "evangelischen Geschichtsschreibung"

Das geschichtliche Interesse der Synoptiker hat aber eine Grenze auf die es zu achten gilt.

Die Besonderheit ihres geschichtlichen Interesses ist etwa darin ablesbar, dass sich aus ihnen keine zusammenhängende Beschreibung des Lebens Jesu von seiner Geburt bis zu seinem Tod gewinnen lässt.

Die Evangelien richten ihre Aufmerksamkeit beinahe ausschließlich auf Jesu öffentliches Wirken und zwar angefangen mit der Taufe durch Johannes bis hin zum Kreuz. Bei Markus ist diese Einschränkung ganz besonders ersichtlich. ⋅2⋅

Wenn Matthäus und Lukas ihren Evangelien eine sogenannte Kindheitsgeschichte voranstellen und damit ein gewisses biographisches Anliegen zur Geltung bringen, so richtet sich die Aufmerksamkeit nicht auf die konkreten Ereignisse, sondern vor allem auf das Faktum der Geburt. Hinzu kommt, dass die Schilderung dieser Kindheitsgeschichten stark von biblisch-theologischen Motiven durchsetzt ist.

Von Jesu Kindheit, Erziehung, Jugend, Berufsausbildung, den ersten Mannesjahren erfahren wir aber absolut nichts. Auch hören wir nirgends etwas davon, was für einen biographisch Interessierten doch eigentlich sehr belangreich wäre, etwa:

  • wie Jesus aussah,
  • welche Farbe sein Haar oder seine Augen besaßen,
  • von welcher Körperstatur er war
  • oder wie er sich kleidete.

Später, vor allem in apokryphen Evangelien, werden diese Auskünfte reichlich nachgeliefert. Diese Evangelien beschäftigen sich auch vornehmlich mit der Kindheit Jesu. Selbstverständlich sind die Auskünfte dieser Spätschriften historisch wertlos.

3. Die Frage nach dem "historischen Jesus"

Jetzt wäre es natürlich interessant der Frage nachzugehen, wie nun diese historische Gestalt Jesus von Nazaret gewesen sein mag. Diese Frage hat auch bereits die unterschiedlichsten Antworten gefunden. All diese Antwortversuche haben aber eines gemeinsam. Sie machen nur deutlich, dass die Frage im Letzten nicht zu beantworten ist. Der historische Jesus von Nazaret ist für uns kaum noch greifbar.

Die neuere Exegese geht nun zwar sehr viel optimistischer an die frühchristliche Tradition heran als man das noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts getan hat. Man geht demnach davon aus - und kann das an einigen Stellen auch belegen -, dass wohl weit mehr Substanz als man noch vor einigen Jahrzehnten annahm, auf Jesus selbst zurückgeführt werden muss. Insgesamt aber müssen wir wohl doch einräumen, dass die Überlieferung der Jesus-Botschaft in den frühen Gemeinden nie vom Interesse geleitet war, ein historisch getreues Bild der Ereignisse zu zeichnen. Die Jesus-Botschaft der frühen Gemeinden war vielmehr zweckorientiert.

Es gab verschiedene Motivationen, die Menschen dazu veranlasst hat, die Ereignisse um Jesus weiterzugeben, Anlässe, die die Traditionsbildung in Gang gebracht haben. Allem voran ist hier die Liturgie zu nennen. Im Gottesdienst wurden die Taten Jesu gepriesen, hymnisch gefeiert und vorgetragen. Gottesdienst und Liturgie haben aber nun einmal nur eingeschränkt biographische Interessen.

Wir können die Person Jesu demnach nicht biographisch beschreiben. Aber das ist hier ja auch gar nicht unsere Aufgabe. Wir wollen ja vielmehr danach fragen, was die neutestamentlichen Überlieferungen nun über diesen Jesus sagen wollen. Wir wollen nach dem Kerygma, nach der bleibenden Botschaft der frühen Christen fragen. Dazu müssen wir diese neutestamentlichen Berichte genauer unter die Lupe nehmen.

Wie nun die neutestamentlichen Schriftsteller mit ihrem Traditionsgut, mit den Überlieferungen und Erzählungen, die ihnen über diesen Jesus von Nazaret vorlagen, wie sie mit diesem Traditionsgut umgegangen sind, dieser Frage müssen wir uns demnach zunächst widmen. Und auf diese Frage lassen sich schon einige recht genaue Antworten geben.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: Joachim Gnilka, Jesus von Nazareth (Herders Theologischer Kommentar zum NT - Supplementband 3) (Freiburg/Basel/Wien 1990) 22-28. Zur Anmerkung Button

2 In Apg 1,21f wird ausdrücklich gesagt, dass diese Zeit des öffentlichen Wirkens besondere Bedeutung hat, und dass ihr daher auch besonderes Interesse gilt. Sie ist das eigentliche Kriterium für die Wahl dessen, der Judas im Apostelkreis ersetzen soll. Zur Anmerkung Button