Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Der "Menschensohn" der apokalyptischen Endzeiterwartung ⋅1⋅
Um die messianische Erwartung Israels vollständig in den Blick zu bekommen, müssen wir noch auf einen weiteren Begriff eingehen, nämlich auf das Sprechen vom "Menschensohn". Dieses spielte schließlich in der apokalyptischen Endzeiterwartung eine nicht geringe Rolle.
Ich greife damit allerdings über unser eigentlich recht chronologisches Vorgehen schon heraus. Um die Messiaserwartung Israels hier geschlossen darstellen zu können sei es mir erlaubt mit dem Thema "Menschensohn" bereits auf das Ende der Entwicklung der alttestamentlichen Endzeiterwartung vorauszublicken, auf die Apokalyptik nämlich.
Damit möchte ich diese Bewegung der Apolyptik, die streng genommen nur noch bedingt in den Rahmen unserer Überlegungen über die Zukunftserwartung im Alten Testament mit hineingehört, ebenfalls kurz anführen. Die Apokalyptik hatte ihre Blütezeit schließlich erst in der Zeit zwischen den beiden Testamenten. Sie gehört demnach nicht mehr unmittelbar zur Endzeiterwartung des Alten Testamentes. Sie kündigt sich in ihm aber bereits an und so möchte ich sie hier daher auch am Rande streifen.
1. Die Apokalyptik
a. Das Entstehen der apokaylptischen Literatur
Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass der Wurzelboden der Apokalyptik die Bedrängnis der jüdischen Gemeinde unter den Seleukidenherrschern, und hier besonders Antiochus IV. Epiphanes (175-164 v. Chr.), war. Gerade seine Politik zielte auf die Ausrottung der Jahwe-Verehrung.
In dieser Situation galt es, den Glauben Israels zu stärken. Die jüdischen Theologen führten daher den Aufweis, dass Jahwe die Geschichte nach einem von ihm dekretierten Plan wirksam lenkt. Er wird daher auch den zuletzt durch die Propheten angesagten "Neuen Äon" heraufführen.
Neben diese Botschaft der Propheten trat nun auch die immer einflussreicher werdende Weisheitsliteratur, die das Ihre zur Ausbildung der apokalyptischen Literatur beitrug. Besonders das kosmologische Interesse der Weisheit - also das starke Interesse der Weisheit am Kosmos und seiner Erklärung - befruchtete die Apokalyptik stark.
Das dritte Standbein war dann der Einfluss den Persien auf die Entwicklung des hebräischen Denkens ausgeübt hatte. Im Exil hat Israel ja unter anderem den persischen Dualismus kennengelernt:
- Das Denken im Gegensatz von Licht und Finsternis
- sowie die Geisterlehre, also das verstärkte Reden von Engeln und Dämonen und die Ausprägung einer eigenen Angelologie und Dämonologie. ⋅2⋅
In diesem Horizont versuchten die Schriftgelehrten Israels nun zu zeigen, dass auch hinter den augenblicklichen Geschehnissen ein göttlicher Plan vorwaltet. Und zwar ein Plan, der alles zu einem guten Ende bringen wird. Sie studierten dazu ganz besonders die Endzeittexte der Exilspropheten.
b. Die Literaturgattung der Apokalyptik
Das Ergebnis war eine eigene Literaturgattung mit einer ganz festen Struktur, die in allen apokalyptischen Werken wieder begegnet:
So wird geschildert, wie eine bekannte Persönlichkeit der Vorzeit in Visionen den göttlichen Plan für den Verlauf der Geschichte gezeigt bekommen hat. Doch die Einsicht in diesen Plan war nicht für den Visionär bestimmt. Er musste das Geschaute aufschreiben und die Niederschrift versiegeln.
Erst bei Anbruch der Letztzeit wird die Schrift nun entsiegelt und damit "enthüllt". Von dieser Enthüllung, im Griechischen ἀποκάλυψις ["apokálypsis"] genannt, erhält diese Literaturgattung auch ihren Namen.
In dieser nun enthüllten Schrift fand jetzt der Leser den Verlauf der Geschichte von früh her, bis zur Gegenwart und selbst darüber hinaus. Dabei haben die Verfasser dieser Bücher die Schilderungen des Geschichtsverlaufs im allgemeinen den biblischen Büchern entnommen. Dadurch illustrierten sie, wie Gott immerfort die Geschichte souverän lenkt. Die Aussage, die damit verbunden war, lautete ganz einfach, dass Gott auch die letzte Zukunft in einem unfehlbaren Dekret festgelegt hat. Er wird auch die weitere Entwicklung der Geschichte zu einem guten Ende führen.
Die Verfasser der Apokalypsen sind also keineswegs Propheten im Vollsinn des Wortes. Sie haben sich aber von den "apokalyptisch" eingefärbten Texten der Prophetenbücher inspirieren lassen.
Weit stärker als bei den Propheten entwickeln sie nun aber die Vorstellung von einer Vernichtung der jetzigen Welt. Die Apokalyptik ist geprägt von der Vorstellung verschiedener Zeitalter, verschiedener Äonen. Die jetzige Weltzeit wird völlig vergehen, sie wird der Vernichtung anheimfallen. Danach kommt dann ein künftiger, alle irdische Geschichte ablösender Äon. Und unsere Geschichte läuft demnach auf diesen zukünftigen Äon zu.
2. Das Buch Daniel als Apokalypse
Ein Buch im Alten Testament trägt nun bereits alle Merkmale einer Apokalypse. Es ist das Buch Daniel. Im hebräischen Kanon steht es daher auch nicht unter den Prophetenbüchern.
Die Hauptgestalt des Buches ist Daniel, der der Tradition nach unter Nebukadnezzar in Babylon lebte. Die ersten sechs Kapitel des Buches Daniel handeln von seinem Leben und bringen meist legendarische Berichte über diesen Propheten.
Die Kapitel 7 bis 12 schildern dann die Visionen, die man nun dem Daniel zugeschrieben hat. Sie sind der eigentliche Kern dieses apokalyptischen Werkes. Am wichtigsten ist in unserem Zusammenhang dabei Kapitel 7.
3. Der "Menschensohn" im Buch Daniel
In diesem Kapitel wird zunächst eine Vision des Daniel beschrieben (Dan 7,1-13). Danach erfolgt eine Interpretation durch einen Engel.
a. Zum Inhalt von Dan 7
Die Vision beginnt mit vier Imperien, die nacheinander in der Form von "Tieren" dem Meer entsteigen (Dan 7,3). Jedes einzelne dieser Reiche herrscht eine Zeit lang, bevor ihm dann die Macht wieder genommen wird. Nachdem alle vier Reiche nacheinander die Herrschaft verloren haben (Dan 7,12) heißt es nun:
"Ich war immer noch in der Beschauung der nächtlichen Gesichte, da kam auf den Wolken des Himmels eine Gestalt wie ein Menschensohn; er gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor diesen hingeführt. Ihm wurde nun Macht und Herrlichkeit und die Königsherrschaft gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen sollten ihm dienen. Seine Herrschaft sollte eine ewige Herrschaft sein, die nie vergehen wird, und sein Königtum sollte niemals untergehen." (Dan 7,13-14.)
b. Der Begriff "Menschensohn" und seine Bedeutung im Buch Daniel
Der Ausdruck "der Hochbetagte" steht hier natürlich für Gott und den Ausdruck "Menschensohn" kann man im Deutschen auch einfach mit "Mensch" wiedergeben. Dieser Mensch aus Dan 7,13 kontrastiert dementsprechend mit den vorausgegangenen Weltreichen. Sie waren ja in Gestalt von Tieren erschienen. Der "Menschensohn" wird also hier den "tierischen Reichen" gegenübergestellt.
Dieser Kontrast wird noch einmal dadurch unterstrichen, dass die Tiere aus dem Meer heraufgestiegen sind. Der "Menschensohn" kam "mit den Wolken des Himmels".
Das Reich der Endzeit, das hier angekündigt wird, steht demnach in einem klar erkennbaren Gegensatz zu dem ihm vorausgegangenen Weltreichen.
Die Bedeutung dieser Vision wird nun von einem "Deute-Engel" näher erläutert.
"Jene vier großen Tiere bedeuten vier Könige, die sich auf der Erde erheben werden. Dann werden aber die Heiligen des Höchsten das Königtum erhalten, und sie werden das Königtum besitzen für immer und in alle Ewigkeit." (Dan 7,17-18.)
Hier werden also als Nachfolger der tierischen Reiche "die Heiligen des Höchsten" genannt. Und wenn man das nun mit Dan 7,13 parallel setzt, dann entspricht der Menschensohn demnach diesen "Heiligen des Höchsten" (Dan 7,18), die am Ende das Königtum besitzen werden.
Was ist nun aber unter diesen "Heiligen des Höchsten" zu verstehen? Dan 7,27 bietet hier wohl die Lösung. Hier ist ausdrücklich vom "Volk der Heiligen des Höchsten" die Rede.
Die "Heiligen des Höchsten" sind also offensichtlich die "Jahwe-Getreuen" (vgl. Ps 34,10), also das ideale Israel. Am Ende der Zeiten wird dem endzeitlichen Israel demnach die Herrschaft übergeben werden. ⋅3⋅
Für die Bedeutung des Begriffs Menschensohn zur Zeit der Abfassung des Buches Daniel kann man demnach mit Sicherheit die Gleichung aufstellen:
"Menschensohn" = "Heilige des Höchsten" = "Volk der Heiligen des Höchsten" = "endzeitliches Israel"
Dies ist für die Endgestalt des Danielbuches gesichert.
c. Die Wirkungsgeschichte des Begriffes "Menschensohn"
Neben diese kollektive Interpretation des "Menschensohnes", die im Buch Daniel noch vorherrschte, trat allerdings mit fortschreitender Zeit immer stärker auch eine indiviuduelle Deutung.
Diese individuelle Interpretation treffen wir dann vorab in den zwischentestamentlichen Apokalypsen an, vor allem im äthiopischen Henochbuch oder auch im vierten Buch Esra.
In dieser Zeit begann man auch verstärkt den Menschensohn von Dan 7 als Einzelperson zu deuten.
Dies bereitet im israelitischen Denken keine größeren Schwierigkeiten. Ein Volk und ganz besonders ein Königreich (vgl. Dan 7,22. 27) hat ja immer einen Repräsentanten, der sein bevollmächtigtes Haupt darstellt.
So konnte auch die Gestalt des Menschensohnes von Dan 7 immer stärker in den großen Zusammenhang der messianischen Erwartung hineingestellt werden.
Von daher ist es auch nicht verwunderlich, dass nach Mt 24,30; Mt 26,64 und den entsprechenden Parallelstellen (vgl.: Mt 16,27 par) Jesus selbst auf Dan 7,13 zurückgegriffen hat. Den Messiastitel hat Jesus ja zurückgewiesen, dies wahrscheinlich vor allem wegen dessen inhaltlicher Besetztheit durch die zelotische Bewegung. Das Menschensohnprädikat scheint er hingegen selbst verwendet zu haben. Mit der Verwendung dieses Titels wollte er selber vermutlich schon darauf hinweisen, dass sich unter seinem gewöhnlichen Menschsein eine göttliche Bestimmung verbarg. Und zwar eine Bestimmung zur entscheidenden Mittlergestalt in der Durchsetzung des endzeitlichen und endgültigen Gerichts- und Heilshandelns Gottes selbst.
In der neutestamentlichen Apokalypse wird denn auch das "Lamm" als Sieger über alle Gegenmächte zum "Herrn der Herren" und zum "König der Könige" proklamiert (Offb 17,14, vgl.: Offb 1,5).
Anmerkungen
Diese Geisterlehre hat sich in Israel übrigens zum Teil auch verselbständigt. Sie führt zu ganz eigenen angelologischen Spekulationen. Die Dämonologie nimmt dann im Judentum allmählich auch einen vor allem militärischen Charakter an. Dies geschieht wohl aus der Erfahrung des Krieges als etwas fundamental Bösem. Krieg also als etwas von den Dämonen Geprägtes.
(Vgl.: Rudolf Pesch, Einführung in das Neue Testament II - nicht autorisierte Vorlesungsmitschrift des WS 1980/81 (Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. Br.) 118.
(Vgl.: Alfons Deissler, Was wird am Ende der Tage geschehen? - Biblische Visionen der Zukunft (Freiburg 1991) 101.)