Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


Weiter-Button Zurück-Button Krankensaal und OP

Innenaufnahme

Der Krankensaal im Hôtel-Dieu in Beaune.

Foto: Jörg Sieger, August 2006

Kaum etwas ist vom Isenheimer Spital erhalten. Aus den wenigen Resten kann man die einstige Anlage nur bedingt erschließen. Was hier schon für die Baulichkeiten gilt, gilt erst recht für das Leben, das das Haus erfüllte, insbesondere im Blick auf diejenigen, die als Kranke nach Isenheim kamen.

Der Krankensaal des Hôtel-Dieu in Beaune

Um einen Eindruck davon zu gewinnen, wie die Kranken in einem solchen Haus unter­gebracht waren, mag ein Blick nach Beaune hilfreich sein, wo sich ein Krankensaal erhalten hat.

Die Betten stehen an den Längsseiten aneinander gereiht. Sie sind durch Zwischenwände und Vorhänge voneinander getrennt. Zog man die Vorhänge auf, konnten die Kranken vom Bett aus die Messe am Altar an der Stirnseite des Saales verfolgen. Das entsprach üblicher Praxis. Die Anlage eines Hospitals war nur von ihrem Zentrum, von ihrem Altar her zu verstehen.

"Die Sichtbarkeit der Reliquie, das Sehenkönnen der Hostie im Augenblick der Wandlung in den Leib Christi, die Teilnahme am Gottesdienst bei Tag und Nacht vom Bett aus blieb ... das entscheidende Architekturkriterium für alle Hospitäler." ⋅1⋅

In Beaune ist dieses Ideal verwirklicht worden. In Isenheim waren Krankensaal und Kirchenraum nicht identisch. Nichtsdestoweniger wird möglicherweise auch in der elsässischen Antoniterpräzeptorei ein Altar im Krankensaal gestanden haben.

Zurück-ButtonZurück-Button Märtyrer der Liebe Gottes

Aber ein anderes Detail dürfte mit großer Sicherheit auch in Isenheim vorherrschend gewesen sein. Auffallend in Beaune ist nämlich die große Rolle, die die rote Farbe im Krankensaal spielt. Die Bettbezüge sind rot, die Vorhänge, die Trennwände... Mancherorts sind es auch Türen und Fenstergewände.

Das hat symbolische Bedeutung: Die Siechen - so nannte man die dauernd Kranken - hießen im Mittealter 'die Märtyrer der Liebe Gottes'.

Man vertrat die Auffassung, dass Krankheit die Folge der persönlichen Sünde war. Dies glaubte man selbst aus der Bibel ableiten zu können. Im Johannesevangelium (Joh 9,1-12) wird beispielsweise geschildert, wie die Jünger Jesu einem Menschen begegnen, der blind geboren worden war. Sie diskutieren nun darüber, wer nun schuld an dieser Blindheit sei. Der Blinde selbst könne ja schwerlich schuld sein, da er ja schon blind geboren wurde. Also müsse es doch die Schuld der Eltern sein, die die Blindheit dieses Menschen verursacht habe.

Ganz unabhängig davon, dass dieses Denken schon von Jesus zurückgewiesen wurde und in der Theologie längst überwunden ist, war es im Mittelalter vorherrschend.

Die unheilbar Kranken hießen nun 'Märtyrer der Liebe Gottes', denn ihnen wurde - so dachte man - schon auf Erden die Gnade zuteil, ihre Schuld abbüßen zu dürfen. Krankheit war diesem Denken nach, eigentlich eine Folge der Liebe Gottes. Gott schenkt dem Menschen schon jetzt die Möglichkeit, für seine Schuld zu büßen, so dass er - nach diesem Leben - geläutert vor Gottes Gericht treten konnte.

Rot nun aber ist die Farbe der Liebe und die Farbe des Blutes. Rot ist deshalb auch Farbe der Märtyrer, die aus Liebe zu Gott, ihr Leben hingegeben und ihr Blut vergossen haben. Und wenn du - das sagte die rote Farbe im Krankensaal den Kranken -, wenn du dein Schicksal so auf dich nimmst, wie die Märtyrer, die ihr Blut für ihren Glauben an Christus vergossen haben, dann wirst auch du dein Ziel erreichen.

Wir werden sehen, dass das 'Rot' der 'Märtyrer der Liebe Gottes' auch auf den Tafeln des Isenheimer Altares, insbesondere im Kreuzigungsbild eine der vorherrschenden Farben darstellt.

Ein richtiger Aufnahmeritus

Seit 1478 gab es eine Verordnung, die es zur Auflage machte, dass jeder Kranke zu Beginn seines Spitalaufenthaltes vor den Altar gebracht werden musste. Dies geschah in einer richtiggehenden Aufnahmeliturgie. Emil Spath hat dieselbe aus den allgemeinen Regeln der mittelalterlichen Liturgie, den Vergleichen zur Ordnung im Mutterhaus St. Antoine und den baulichen Gegebenheiten erschlossen und sehr überzeugend rekonstruiert ⋅2⋅:

Nach seiner Ankunft, fand der Kranke Einlass im heute noch erhaltenen Torgebäude. Dann wurde er in einen separaten Raum, der sich zwischen dieser "porterie" und der Kirche befand untergebracht und versorgt.

Die Nacht verbrachte er in einem niederen Seitenschiff des ebenfalls noch vorhandenen oratorienartigen Raumes in der "porterie", während eine "mulier hospitalis", eine Art Krankenschwester, bei ihm wachte und betete.

Am Morgen wurde der Kranke einer Art Prüfung unterzogen, ob er tatsächlich krank war und ins Antoniterhospital aufgenommen werden konnte, oder gar ein Betrüger war, der lediglich Unterschlupf suchte. Das Ordensstatut verpflichtete streng, jeden - Mann oder Frau, gleich welchen Standes - am Antoniusfeuer Erkrankten in die Gemein­schaft aufzunehmen.

Im heute noch erhaltenen oratorienartig gewölbten Raum des Torgebäudes fand dann der erste Teil der eigentlichen Aufnahmeliturgie statt. Der Kranke empfing eine Art Ordensgewand, wurde mit dem Aschenkreuz bezeichnet, bekam die Haare geschoren und empfing das Bußsakrament.

Emil Spath vermutet, dass währenddessen - vermutlich Laienbrüder aus dem Brunnen im Verbindungshof zwischen Torgebäude und Kirche Wasser  schöpften und damit das Bronzebecken, das sich hinter dem Altar in der Kirche befand, füllten.

Dann zog man durch die eigenartige Ostpforte im Chor der Kirche mit dem Kranken zu diesem Bronzebecken, das nun mit dem Antoniuswasser gefüllt war. Der Abflussverschluss wurde geöffnet, so dass das geweihte Wasser herausfließen konnte und der Kranke wurde einer rituellen Waschung unterzogen. Nachdem er abgetrocknet war, wurde er vor den Altar geführt, wo nun die Aufnahme-Liturgie vollendet wurde.

Der Kranke erhielt die Absolution, die Lossprechung von seinen Sünden, die Krankensalbung, damals als Extrema Unctio, letzte Ölung, verstanden, und er erhielt das Sakrament der Eucharistie, die Wegzehrung.

Dann legte er sein Versprechen ab. Die Aufnahme in das Antoniterspital war schließlich gleichbedeutend mit dem Eintritt in den Orden. Auch nach einer etwaigen Genesung blieb er in den Orden eingebunden. Alle Kranken hatten in die Hand der Präzeptoren auf das Evangelium ein feierliches Versprechen abzulegen, das den drei klassischen Ordensgelübden Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam nachgebildet war. Der Kranke schwor dem Glauben und dem Orden Treue und Gehorsam, hatte seine Güter, sein Erbe ganz oder zum Teil dem Orden zu überlassen und nahm die Verpflichtung auf sich, von nun an in geschlechtlicher Enthaltsamkeit zu leben: Versprechen, die den Ordensgelübden "Armut - Ehelosigkeit - Gehorsam" nachgebildet waren. Erst dann war er vollgültig aufgenommen. ⋅3⋅

Dies geschah nun vor dem gewaltigen Hauptaltar mit seinen ausdrucksstarken Darstellungen, die ihre Wirkung sicherlich nicht verfehlten.

Heilerfolge und Misserfolge

Nach der Aufnahme wurde der Kranke zunächst den Ärzten übergeben. Es waren Laienbrüder oder - wie in den meisten Fällen - Vertragsärzte, die oft großes Ansehen genossen und den Ruhm der Antoniterniederlassungen ausmachten.  Nachdem der Kranke ins Spital aufgenommen worden war, folgte als nächster Schritt in aller Regel die Amputation der verkrüppelten Glieder. Dies geschah in Isenheim wohl im Obergeschoss der Porterie.

Nicht selten hat der Kranke diesen zweiten Tag seines Aufenthaltes bei den Antonitern schon nicht überlebt. Er fand dann seinen Platz auf dem vor dem Hauptportal der Klosterkirche gelegenen Friedhof. In ein Ordenshospital der Antoniter Aufgenommensein bedeutete: In dieser Gemeinschaft Versorgtwerden auf Lebenszeit und geistliche Zugehörigkeit auch über den Tod hinaus. ⋅4⋅

Das heißt allerdings nicht, dass es nicht genauso spektakuläre Heilerfolge gab. Häufig wurde das Leiden beträchtlich erleichtert. Die Kranken wurden - untergebracht im Krankensaal - über längere Zeit gepflegt, ihre Schmerzen erfuhren Linderung und am Ende wurde diesen Menschen ein würdiges Sterben ermöglicht.

Eine große Rolle bei der Behandlung der Kranken spielten der sogenannte Antoniusbalsam und der Antoniuswein - letzteres ein Heiltrank mit Kräuterzusatz, der vermutlich gefäßerweiternd wirkte und damit die schlimmsten Symptome der Mutterkornerkrankung bekämpfte.

Nicht alles um Gotteslohn - der Quest

Detail vom Schrein des Isenheimer Altares

Figur mit Schwein im Schrein des Altares.

Foto: Jörg Sieger, April 2006

Natürlich brauchten Einrichtungen, wie sie die Antoniterniederlassungen darstellten, Geld - und das nicht zu knapp. Schon unmittelbar nach Gründung der Bruderschaft in Staint-Antoine hatte sich gezeigt, dass der Unterhalt der wachsenden Pilgerscharen im Mutterhaus und die steigende Zahl auswärtiger Niederlassungen größere Geldmittel und eine durchdachte Organisation erforderten. Der schon Mitte des 11. Jahrhunderts üblich geworden Brauch, bei den Gläubigen Geldsammlungen unter Mitführung von Heiligenreliquien zu veranstalten, wurde deshalb von den Antonitern aufgegriffen, systematisiert und zur höchsten Vollendung geführt. Jahr für Jahr erschienen die 'Antoniusboten', also Angehörige oder auch Beauftragte der Antoniter­gemeinschaft, in immer Neuen Orten. Selbst abgelegene Gebiete, wie einsame Gebirgstäler oder das dünn besiedelte Skandinavien, wurden erfasst. ⋅5⋅.

Dieser sogenannte "Quest" war die Haupteinnahme-Quelle der Antoniter.

Da jedoch in den Zeiten Bargeld noch die Ausnahme war und Geldwirtschaft sich erst langsam entwickelte, entlohnte man die Antoniusbrüder mit Naturalien, genau genommen mit Schweinen.

Man zog in den Dörfern Ferkel auf, die für die Antoniter bestimmt waren. Sie wurden mit Abfällen gemästet, nach der Schlachtung verkauft oder in geräuchertem Zustand dem Mutterhaus oder einzelnen Niederlassungen zugeführt. Adalbert Mischlewski berichtet, dass schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts 'von Schottland bis nach Antiochien weder Stadt noch Schloß' gefunden wurde, in denen man nicht die Antoniusschweine herumlaufen sah. Zur Kennzeichnung erhielten die Antoniusschweine ein T, seit der Mitte des 12. Jahrhunderts das Zeichen der Antoniter-Bruderschaft, das die Brüder in hellblauer Farbe auch an ihrer Kleidung trugen. ⋅6⋅

Diese Schweine wurden zu einer richtigen Werbemarke der Antoniter. Und auf den Darstellungen des Heiligen Antonius findet sich am Ende auch grundsätzlich ein Ferkel zu Füßen des Heiligen. Zur Unterscheidung von anderen Heiligen mit Namen Antonius, wurde er vielerorts auch einfach "Sautoni" genannt. Für den Heiligen Antonius wurde die "Antoniussau" zum Attribut, zum Erkennungszeichen - und die Antoniter wurden durch sie "schweinemäßig" reich.

Weiterführende Informationen zu folgenden Themen:
Das "Hôtel-Dieu" in Beaune - Die Aufnahme in das Spital (Ankunft und Prüfung - In der "Porterie" - In der Kirche") - Antoniuswein und Amputationen - [in Vorbereitung: Schweinemäßig reich].

 

Weiter-Button Zurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: Dieter Jetter, Grundzüge der Hospitalgeschichte (Darmstadt 1973) 28, zitiert nacht: Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar (Stuttgart 1996) 44. Zur Anmerkung Button

2 Vgl.: Emil Spath, Isenheim - Der Kern des Altarretabels - Die Antoniterkirche (Freiburg 1997) Band I, 337-366. Zur Anmerkung Button

3 Vgl.: Emil Spath, Isenheim - Der Kern des Altarretabels - Die Antoniterkirche (Freiburg 1997) Band I, 337-366. Zur Anmerkung Button

4 Vgl.: Emil Spath, Isenheim - Der Kern des Altarretabels - Die Antoniterkirche (Freiburg 1997) Band I, 340, 404-409. Zur Anmerkung Button

5 Vgl.: Adalbert Mischlewski, Die Antoniter und Isenheim, in: Max Seidel, Mathis Gothart Nithart Grünewald, Der Isenheimer Altar (Stuttgart 1973) 257. Zur Anmerkung Button

6 Vgl.: Adalbert Mischlewski, Die Antoniter und Isenheim, in: Max Seidel, Mathis Gothart Nithart Grünewald, Der Isenheimer Altar (Stuttgart 1973) 257. Zur Anmerkung Button