Vorträge von Marieluise Gallinat-Schneider
Frauengemeinschaft St. Paul, 15. März 2016, Bruchsal
Madeleine Delbrêl
Da ich weiß, dass Sie gern etwas über Frauengestalten hören, möchte ich Ihnen heute eine besondere Frau vorstellen. Natürlich hat sie, 1964 gestorben, schon wieder in einer anderen Zeit gelebt. Aber sie war dennoch eine Frau bei der es sich lohnt, sich mit ihr zu beschäftigen. Einige von Ihnen werden den Namen vermutlich das erste Mal gehört haben, als wir unser Wochenendseminar mit Gotthard Fuchs, Ordinariatsrat aus dem Bistum Limburg hatten, der sich mit ihrer Person unter dem Blickwinkel Mystik und Verantwortung viel beschäftigt.
Madeleine Delbrêl wurde am 24.10.1904 in der Dordogne geboren, da der Vater Eisenbahnbeamter war, zog sie als Kind ständig um: Lorient, Nantes, Bordeaux, Châteauroux, 1913 dann Montluçon und endlich 1916 Paris. Sie erhält Privatunterricht, wird auch von Priestern im Glauben erzogen.
Sie sagt später selbst, es gab zwischen sieben und zwölf Jahren viele, die ihr den Glauben beigebracht haben, aber danach ebensoviele außergewöhnliche Menschen, die in ihr wieder genommen haben, mit 15 war sie strikt atheistisch, sie schreibt später: "Gott im zwanzigsten Jahrhundert war absurd". Sie schrieb Lyrik. Sie setzte sich viel mit Gott und Glauben auseinander und kam zu der Erkenntnis: "Gott ist tot - es lebe der Tod".
1924 mit 20 findet sie wieder zum Glauben zurück und dann auch ganz heftig. Es gab mehrere Auslöser, heftige Schicksalsschläge, z.B. die Trennung von ihrem Freund, der Dominikaner wurde und die Erblindung ihres Vaters. Sie dachte darüber nach, in ein Kloster einzutreten. Sie liebäugelt wie wir es ja bei Edith Stein letztes Jahr besprochen haben, mit dem Karmelitenorden, ist wie diese von Theresa von Avila beeindruckt, aber sie kommt zur Erkenntnis: "Ein realistisches Leben nach dem Evangelium kann man nicht in einer abstrakten Kirche leben". Sie gab ihr Kunst- und Literaturstudium auf. Sie kam so zunächst in Kontakt mit ihrer Pfarrgemeinde und engagierte sich bei den in Frankreich neu gegründeten Pfadfindern. Daher beschließt sie am 15.10.1933 dem Festtag der Hl. Teresa von Avila, mit zwei anderen jungen Frauen nach Ivry zu gehen und dort im Sozialdienst zu arbeiten. Sie schreibt über ihre Ankunft in Ivry: "Ich war 29 Jahre alt. Auf dem Rathaus wehte die rote Fahne. Was das bedeutete, wusste ich nicht. Wenn meine Begegnung mit dem Marxismus auch dauerhaft sein sollte -ausgesucht hatte ich sie mir nicht. Von jedem Neuankömmling wurde erwartet, dass er sich entweder als Katholik oder als Kommunist zu erkennen gab. Auf der Straße grüßten Christen und Kommunisten sich mit Steinwürfen und heftigen Beschimpfungen."
Ivry war die erste französische Stadt, die kommunistisch regiert wurde und es bis heute wird. Natürlich sind heute andere Probleme im Vordergrund, die Auseinandersetzung Christentum - Kommunismus ist längst in den Hintergrund getreten und unwichtig geworden. Die Stadt hat inzwischen auch viele Einwanderer. Nach dem 2. Weltkrieg kamen viele v.a, aus den Antillen, dem Maghreb, Indochina und Schwarzafrika.
Foto: Sophie Schneider
Es war eine typische Arbeitervorstadt von Paris, mit guter Eisenbahnanbindung dorthin. Die dortige Pfarrgemeinde hatte mit den Arbeitern, vor allem den marxistisch geprägten, nichts zu tun und schottete sich ab. Die Aktion "La main tendue", also der ausgestreckten, hingehaltenen Hand wurde ins Leben gerufen, um Katholiken und Kommunisten zur Zusammenarbeit gegen die Faschisten und zum Miteinander zu bewegen. Neben sozialen Aktionen ermöglichte dies auch die konkrete Begegnung der Kirche mit den Ungläubigen der Stadt. Madeleine Delbrêl hat in ihrem Denken eine Dialektik, die zeigt, dass sie selbst in Glaubensdingen durch ihre intensive Auseinandersetzung mit dem Kommunismus geprägt ist. Insgesamt stellte der Kommunismus für Madeleine in dieser Zeit eine große Versuchung dar. Aufgrund der sozialen Aktionen überlegte sie, sich ihm anzuschließen. Als sie jedoch durch das Studium des Evangeliums und der Schriften Lenins feststellte, dass der Marxismus zutiefst atheistisch geprägt ist, distanzierte sie sich vom Kommunismus.
Für Katholiken war es eigentlich klar, dass der Kommunismus der Feind ist, mit dem man nicht zusammenarbeitet, was schließlich päpstliche Anweisung war. In der Enzyklika Rerum novarum von 1891 grenzt sich Papst Leo XIII. eindeutig vom Kommunismus ab und gibt den 3. Weg vor, aus dem die christliche Soziallehre entstand. Für Deutschland hat dieser Weg entscheidende Impulse gegeben und wurde dort gut aufgenommen und umgesetzt, aber in Frankreich haben wir einen völlig anderen Hintergrund. In Deutschland haben die christlichen Arbeitervereine und christliche Gewerkschaften Impulse gegeben, haben Katholiken sich in den Kolpingwerken oder der KAB engagiert und einen eigenen politischen Katholizismus entwickelt, den es so in Frankreich nicht gab. Auch die Enzyklika Quadragesimo anno von Pius XI zum 40. Jahrestag wiederholt noch mal: "für die guten und treuen Kinder der Kirche bedarf es da wahrlich keiner Warnung mehr vor dem gottlosen und ungerechten Kommunismus." 100 Jahre, bis zum 2. Vatikanischen Konzil dauert es, bis die Kirche sich von ihren antimodernistischen Tendenzen trennt und die Herausforderung annimmt, in einer modernen Gesellschaft den Glauben zu leben. Aber Madeleine Delbrêl stellte sich genau dieser Herausforderung schon längst vorher. Sie lebt in dieser kirchen- und glaubensfernen Welt ihr Christsein mitten unter den Menschen. Während des zweiten Weltkrieges, von 1939-1946 rief sie beispiellose soziale Hilfsorganisationen für diese Stadt ins Leben, um den Menschen zu helfen. Wo der Marxismus dafür kämpft, Unsterblichkeit dadurch zu erlangen, dass man für die Nachkommen ein besseres Leben erkämpft, setzt sie sich auf der Grundlage des Kreuzestodes Jesu mit diesem Thema auseinander. Sie konnte während des Krieges die Lücke füllen, die durch den Wegfall der städtischen Sozialarbeit entstand und arbeitete als Sozialarbeiterin in Ivry im Rathaus.
Foto: Sophie Schneider
Sie lernte auch bald den ersten Arbeiterpriester, der in Marseille den Hafenarbeitern zur Seite stand und sich auch in die kommunistische Gewerkschaft wählen ließ, auf einer Parisreise kennen. Diese Menschen schlossen sich zur Mission de France zusammen. Diese Arbeiterpriester waren eine ganz besondere französische kirchliche Prägung, für die Madeleine Delbrêl sehr aufgeschlossen war und auf deren Seite sie stand, auch als Rom 1954 diese verbot. Es gab bereits 1952 ein Verbot und ein Hin und Her mit dem Vatikan, dem die Lebensform der Arbeiterpriester ein Dorn im Auge war. Einige der Arbeiterpriester waren der Auffassung, dass sie mittels der Weihe dazu befähigt waren, das Evangelium in der Welt zu leben, während Delbrêl davon ausgeht, dass jeder Christ durch das Wort des Evangeliums inkarniert ist. Sie setzt sich daneben auch von den politischen Dimensionen der Arbeiterpriester ab. 1952 verstärkte sich nach dem schon eher erlassenen Verbot der Zusammenarbeit der Arbeiterpriester und Kommunisten die Krise der Arbeitermission. Die Arbeiterpriester verloren den Rückhalt der von Anfang an skeptischen römisch-katholischen Kirche und wurden andererseits von den politisch Linken als "kommunismusfeindlich" beschuldigt.
Madeleine reiste nach Rom, um für die Mission de France und die Arbeiterpriester zu beten. Madeleine unternahm eine zweite Reise nach Rom und erhielt auch eine Audienz bei Papst Pius XII., bei dem sie auch den Staatssekretär kennenlernte, der 1958 bei der kirchlichen Anerkennung der Lebensform Madeleines und ihrer Gemeinschaft eine große Rolle spielte.1954 wurde die "Mission de France" wieder eingeschränkt erlaubt, jedoch 1959 erneut verboten.
1961 wurde Madeleine von Erzbischof Sartre gebeten, bei den Vorbereitungen für das von Johannes XXIII. angekündigte Zweite Vatikanische Konzil mitzuarbeiten. Schließlich schickte sie dem Erzbischof Notizen zum Thema "Das Verhältnis von Glauben und Geschichte, von Zeitlichkeit und Ewigkeit" zu.
Am 13.10.1964 starb sie kurz vor ihrem 60. Geburtstag an einem Schlaganfall. Posthum wurden viele ihrer Texte veröffentlicht. Hans Urs von Balthasar hat ihr Werk "La Joie de Croire" ins Deutsche übersetzt mit dem Titel "Gebet in einem weltlichen Leben" und mit einem Vorwort versehen. Ihre mysthischen Gedichte sind z.T. schwierig für uns, sie stammen auch aus einer anderen Zeit, aber wir müssen uns auch immer klar machen, dass Übersetzungen nie ganz die Empfindungen ausdrücken, die das Original beinhaltet. Sie war Mysthikerin, Sozialarbeiterin, Dichterin, Christin mitten in der Welt und hat Dinge miteinander verbunden, die gerade in ihrer Zeit als Gegensätze galten. Ich denke, ihr hätten die Neuerungen, die durch das 2. Vatikanische Konzil entstanden, zugesagt.
Heute hat Frankreich mit ganz anderen Problemen zu kämpfen, die Kirche ist dort in den letzten Jahren immer unwichtiger geworden, immer kleiner. Nach den Anschlägen am 13. November 2015 haben wir deutlich gesehen, wie sehr dieses Land und vor allem die Stadt Paris, die für Weltoffenheit, Schönheit und ein modernes Lebensgefühl steht, die religiösen Gefühle von Fanatikern des islamischen Terrorismus stört und daher von ihnen bekämpft wird, sogar eigene Glaubensgenossen werden da nicht ausgenommen. Es ist nicht mehr die Differenz zwischen Kirche und Kommunismus, die prägt.
(Marieluise Gallinat-Schneider)