Navigation zeigen
Navigation verbergen

Marieluise Gallinat-Schneider

Gemeindereferentin in Bruchsal

Vorträge von Marieluise Gallinat-Schneider

Frauengemeinschaft St. Peter am 9. März 2004

Gedanken zur Fastenzeit Die letzten Worte Jesu am Kreuz" - Eine Betrachtung auf dem Hintergrund von Psalm 22

Betrachten wir zunächst das Bild:

Jesus als Schmerzensmann von Tillmann Riemenschneider

dazu Musik O Haupt voll Blut und Wunden (Hufeisen CD)

Der Schmerzensmann hat unglaublich klar geschnitzte Züge, das Gesicht ist schmerzverzerrt, ein leidender Mensch.

In den 4 Evangelien sind uns 3 verschiedene Varianten dessen überliefert, was der sterbende Jesus am Kreuz gesagt hat:

Es gibt natürlich viele theologische Spekulationen, welcher Satz wirklich authentisch ist. Vieles spricht dafür, dass die Evangelienschreiber, die ja griechisch schrieben, den Satz Eli, Eli lema sabachtani nie in ihre Texte aufgenommen hätten, wenn sie ihn nicht auch so überliefert bekommen hätten, denn Jesus hat aramäisch gesprochen und das ist der einzige Satz in seiner Heimatsprache in der Bibel. Zudem haben zwei Evangelisten die gleiche Aussage überliefert, was schon für eine große Übereinstimmung und für eine Echtheit spricht.

Was tut Jesus da? Er betet einen Psalm, Psalm 22. Ist es nicht nur zu gut verständlich, dass Jesus, der Jude, in seiner schwersten Stunde zu einem ihm bekannten und vertrauten Gebet greift?

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen bist fern meinen Schreien, den Worten meiner Klage? Mein Gott ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort: ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe."

Liegt es nicht nahe, sich vorzustellen, dass Jesus in seiner Verzweiflung so gebetet hat? Sehen wir uns den Schmerzensmann an! Könnten wir uns bei ihm nicht diese Worte vorstellen? Oft finden wir in der Kunst ja völlig verklärte Bilder von Jesus am Kreuz. Sicher verfolgten die Künstlerinnen und Künstler mit diesen Darstellungen auch eine bestimmte Absicht, aber bei mir stoßen sie auf Widerstand. Ich habe schon oft gedacht, so schaut kein Mensch im Augenblick des tiefsten Leidens! In der Elisabethenkirche in Marburg hängt ein Christus von Barlach, der mich zutiefst berührt hat, weil er das Leiden für mich treffend ausdrückt. Genauso geht es mir auch mit dem Schmerzensmann. Sein Gesicht berührt mich zutiefst, ich trete mit ihm in einen Dialog. Ich erwarte hier förmlich den Ausspruch tiefster Verzweiflung: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich weiß, dass es in Marburg damals auch viel Widerstand gegen Jesus am Kreuz als zerschlagenen, leidenden Menschen gab, aber für mich hat Jesus im Sterben nicht seine Auferstehung vorweggenommen. Er war real leidendend und ist wirklich gestorben und sah auch wie ein Sterbender aus, er empfand Schmerz und Pein wirklich, Ostern kommt erst nach dem Karfreitag und daher dürfen wir uns auch den leidenden Jesus vorstellen, obwohl wir in ihm gleichzeitig den Erlöser, den Auferstandenen sehen, aber das ist unsere heutige Sicht, unser heutiger Glaube, zuerst kam das wirkliche Leid, dem er wirklich ausgeliefert war und das ist kein Widerspruch!

Ich habe letzthin den Ausspruch eines berühmten Theologen gelesen, der sagt: "Wenn Jesus nicht am Kreuz dieses Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen... gerufen hätte, hätte mein ganzer Glauben keinen Sinn." Ein radikaler Satz. Aber auch für mich ist es so! Ich kann mir keinen Jesus denken, der in der Stunde seiner größten Not huldvoll sagt, "Vater in deine Hände lege ich meinen Geist" oder "Es ist vollbracht". Solch ein Jesus ist fern von mir, mit dem kann ich mich in Zeiten des Leides nicht solidarisieren. Solch eine Demut würde mir Angst machen, sie würde mir das Gefühl geben, ich darf Gott nicht meine Angst und Verzweiflung zeigen. Dabei macht das doch gerade den Wert meiner Gottesbeziehung aus, dass ich mich vor ihm nicht verstecken muss. Wenn ich mich mit Jesus solidarisieren kann, dann mit einem Menschen, der aufbegehrt, der sich allein gelassen fühlt. Jesus schreit in tiefster Not, er ist verzweifelt. Das ist das größte Geschenk Gottes an die Menschen, dass Gott Mensch wurde, sich mit den Menschen solidarisiert hat, ihr Leiden auf sich genommen hat. Jesus hat nicht nur Mensch gespielt, er war ganz Gott und ganz Mensch zugleich. Wenn er aber ganz Mensch war, dann hat er in seinem Leiden gezweifelt, gehadert, gekämpft, Einsamkeit, Schmerz und Todesangst ausgehalten so wie wir auch!

Rudolf Otto Wiemer sagt:

Keins seiner Worte glaubte ich, hätte er nicht geschrien:
Gott, warum hast du mich verlassen.
Das ist mein Wort,
das Wort des untersten Menschen.
Und weil er selber so weit unten war,
ein Mensch, der "Warum" schreit und schreit "Verlassen",
deshalb könnte man auch die andern Worte, die von weiter oben, vielleicht
ihm glauben.

Für mich war es in meinen dunkelsten Stunden immer wichtig zu wissen, Gott ist mit mir, ich kann mich an Jesus orientieren, der weiß wie man sich in solchen Momenten fühlt, der kennt diese dunklen Momente aus eigener Erfahrung, er hat sie durchlebt. Nie habe ich mich dem sterbenden Jesus am Kreuz so nah gefühlt wie in eigenen Zeiten der Krankheit. Psalm 22 war für mich in dieser Zeit mein wichtigstes Gebet. Es war für mich wichtig, zu wissen, auch Jesus hat diesen Psalm gebetet. Außerdem finde ich, dass die Psalmen in Notzeiten der tröstlichste und hilfreichste Gebetsschatz sein können, weil sie die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle widerspiegeln. Mir hat ein Religionslehrer in der Oberstufe mal gesagt, er meine, ich habe eine jüdische Religiosität. Was meinte er damit? Die meisten Christen denken ihre Beziehung zu Gott sehr fromm, mit wohlgeordneten Sätzen und Gebeten, ohne Emotion. Ich kann mit meinem Gott auch zornig sein, ihm in meiner Wut und Verzweiflung mein Gebet entgegenschleudern, so wie es in den Psalmen auch geschah, wie es im Judentum durchaus üblich und gängig ist zu beten. Dort ist ein solcher Zugang zu Gott erlaubt.

Es geht nicht darum, Menschen, die leiden zu vertrösten auf ein Jenseits, darauf, dass Jesus das Leid der Welt auf sich genommen hat. Nein, der Jesus der sagt, "Vater in deine Hände lege ich meinen Geist", der vertröstet. Aber der Jesus, der sagt, "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen", der zeigt mir, dass ich meine Ohnmacht, meine Angst, meine Verzweiflung vor Gott herausschreien darf. Er hat sie auch gelebt und erlebt, er war sosehr Mensch, dass ihm diese menschlichen Gefühle nicht fremd sind.

Wenn wir uns die Passion insgesamt anschauen, ist für mich der Satz am Kreuz auch konsequent die Fortsetzung der Ereignisse. Jesus geht vom letzten Abendmahl weg in den Garten Getsemani. Er hat Angst, Todesangst, er bittet seine Jünger mitzukommen, weil er nicht alleine sein will. Er betet zu Gott: "Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst." Er hat Angst vor dem Leiden, dass ihn erwartet, aber er ist bereit, es anzunehmen. Die Jünger schlafen nach dem guten Essen und Trinken ein, ihnen ist der Ernst der Situation gar nicht bewusst, Jesus ist einsam, sehr einsam. Er wird gefangengenommen, er wird verspottet, sie setzen ihm die Dornenkrone auf. Er muss sein Kreuz tragen, wird daran geschlagen und verhöhnt. Er ist am tiefsten Punkt angelangt, wie es im Philipperbrief heißt, "Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz."

Sein Leben war das eines Menschen bis zum tiefsten Punkt des Todes, daher hat er alle menschlichen Gefühle durchlebt. Dies beinhaltet für mich konsequent durchgedacht auch den Verzweiflungsschrei: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Jesus als Mensch erlebt den tiefsten Punkt wie wir Menschen und sagt uns, ihr dürft eure Verzweiflung und Not zeigen, ihr dürft sie vor Gott tragen, vor ihm braucht ihr keine Maske zu tragen. Das gibt meinem Leben, aber auch dem Leid, welches mir widerfährt, Sinn.

Und der Psalm 22 gibt unserem Sinn auch Grund. Es heißt in Vers 24-26: "Ich will deinen Namen meinen Brüdern ( und sicher auch Schwestern) verkünden, inmitten der Gemeinde dich preisen. Die ihr den Herrn fürchtet, preist ihn, ihr alle vom Stamm Jakobs, rühmt ihn erschauert alle vor ihm, ihr Nachkommen Israels! Denn er hat nicht verachtet, nicht verabscheut das Elend des Armen. Er verbirgt sein Gesicht nicht vor ihm; er hat auf sein Schreien gehört. Deine Treue preise ich in großer Gemeinde; ich erfülle meine Gelübde vor denen, die Gott fürchten."

Gott hat die Schreie von Jesus erhört, er erhört auch unsere Schreie, er wendet sich im Leiden nicht von uns ab. Aber wichtig ist, erst durfte und musste Jesus schreien, er hat geschrien, dann hat Gott ihn erhört.

So ist für uns die Fastenzeit auch eine Zeit, in der wir Jesu Leiden vor Augen haben und dadurch wissen, er ist in allem unser Bruder. Das gibt uns Kraft für dunkle Zeiten in unserem Leben.

(Marieluise Gallinat-Schneider)