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Marieluise Gallinat-Schneider

Gemeindereferentin in Bruchsal

Seelsorgerliche Begleitung und Präventionsarbeit von Marieluise Gallinat-Schneider

Gottesdienst, 21. Januar 2006, Weingarten

Gewalt, über die man nicht spricht - Vom "Dauerauftrag" der ChristInnen

0. Vorbemerkung und Dank

Gewalt findet im Nahbereich statt, im Alltag. Gottesdienste gegen Gewalt hingegen finden üblicherweise in Nischen statt, in "besonderen" Räumen, zu besonderen Zeiten, in denen sich die treffen, die mit "dem Thema" professionell beschäftigt sind. Die Gruppe gewaltüberlebender Christinnen, Bruchsal, war der Ansicht, dass ein Gottesdienst zum Thema "Gewalt, über die man nicht spricht" an die alltäglichen Lebensorte gehört, also auch in den normalen Sonntagsgottesdienst einer Kirchengemeinde. In unseren Gottesdiensten haben Themen wie Rassismus und Krieg, Flucht und Hunger, Armut und Ungerechtigkeit ihren Platz. Das Thema "Gewalt gegen Frauen", die Tatsache, dass Kinder sexuell missbraucht und Frauen vergewaltigt werden - sie scheinen in unseren Gottesdiensten nicht zur Sprache zu kommen. Aber Missbrauch, Vergewaltigung, Gewalt passieren und beeinträchtigen, beschädigen und zerstören noch immer ganz alltäglich Leben. Also müssen sie auch in unseren Gottesdiensten vorkommen. Menschen, die Opfer von Gewalt wurden, benötigen die Solidarität anderer Menschen, auch die Solidarität der Christinnen und Christen. Gewalttäter, die natürlich auch in Kirchengemeinden zu finden sind, müssen hören, dass ihr Tun nicht gebilligt wird und dass ChristInnen sich mit den Opfern solidarisieren und die Umkehr der Täter einfordern. Sprechen von Gewalt in einem Gottesdienst gibt diesem Sprechen noch einmal eine größere Verbindlichkeit, denn es ist ein "Dauerauftrag", den Menschen sich nicht selbst geben können, den sie vielmehr von ihrem Gott haben. Sie können ihn nur zu erfüllen suchen.

Mir hat der Gottesdienst die Hoffnung genährt, dass einmal eine Zeit kommen wird, in der Menschen, die Gewalt erlebt haben und mit den Gewaltfolgen zu leben haben, in ihren Kirchengemeinden vor Ort Asyl, Heimat und Solidarität finden. Ich danke Herrn Dekan Olf, Frau Pfarrerin Frank, Gemeindereferentin Frau Gallinat-Schneider, den Mitgliedern der Bruchsaler Gruppe, den Frauen der Mailingliste von GottesSuche für ihr Mittun in Vorbereitung und Feiern des Gottesdienstes. Ich danke auch jenen Kirchengemeinden der Umgebung, die auf diesen Gottesdienst hinwiesen. Ein herzlicher Dank geht ebenfalls an die Seelsorgeeinheit St. Peter, Bruchsal, für die es inzwischen selbstverständlich ist, für die Opfer von Gewalt zu beten und die dies auch an diesem Sonntag tat.

Im Folgenden dokumentiere ich die gottesdienstlichen Texte und freue mich über die Zurverfügungstellung der Predigttexte.

I. Einführung in den Gottesdienst

Mein Name ist N.N. Ich arbeite seit über 5 Jahren mit Frauen, Christinnen, die körperliche, seelische oder sexuelle Gewalt in Kindheit, Jugend oder auch als Erwachsene erlebten und bis heute an den Folgen leiden. "Gewalt, über die man nicht spricht" ist das Thema des heutigen Gottesdienstes. Es ist ein schmerzhaftes Thema und dennoch ein notwendiges. Denn die Menschen, die Gewalt erfahren haben oder sich immer noch in Gewaltbeziehungen befinden - sie leben ja mitten unter uns. Zuverlässige Untersuchungen zeigen, dass jedes 7. Mädchen bis 14 Jahre sexuellen Missbrauch erlebt. 37% aller Frauen ab 16 Jahren berichten von körperlicher Gewalt. Über seelische Gewalt gibt es keine zuverlässigen Zahlen. Die Älteren unter uns haben wohl nicht vergessen, wie schwer das Leben mit oft auch sexuellen Gewalterfahrungen des Krieges war. Vielleicht mussten auch sie ein Leben lang darüber schweigen, weil sie niemanden fanden, der es hören wollte.

Die Wahrnehmung von Gewalt in Nahbeziehungen ist schmerzhaft für alle. Für die Betroffenen ebenso wie für die Umstehenden. Solange wir jedoch darüber schweigen, solange müssen auch Betroffene schweigen. Und das Leid dieser Menschen hat ja zwei Ursachen: einmal die Erfahrung der Gewalt und ihrer manchmal lebenslänglichen Folgen. Zum anderen jedoch das Schweigenmüssen über die Gewalt. Damit diese Menschen einen Ort haben, an dem sie sprechen dürfen und gehört werden, müssen wir als Christen und Christinnen lernen, darüber sprechen.

In Bruchsal ist 2003 eine Gruppe Gewaltüberlebender Christinnen entstanden. Sie hat dort in einer Kirchengemeinde eine Heimat gefunden. Frau Gallinat-Schneider, Gemeindereferentin der Seelsorgeeinheit St. Peter in Bruchsal, begleitet diese Gruppe als Seelsorgerin. Sie steht nach dem Gottesdienst im Gespräch zur Verfügung ebenso wie ich und ebenso wie Frau Pfarrerin Frank aus Schönborn. Auch sie hat das Ende des Schweigens über Gewalt im Nahbereich zu ihrem Anliegen gemacht. Wir sind in diesem Gottesdienst heute Ihre Gäste, weil Herr Dekan Olf uns eingeladen hat. Für diese Einladung danken wir Ihnen herzlich, Herr Dekan.

Uns allen wünsche ich, dass wir diesen Gottesdienst miteinander feiern können in der Gewissheit, dass unser Gott auf der Seite derer steht, die bis heute und auch mitten unter uns Gewalt erleiden müssen. In seinem Sohn Jesus ist er ja selber ein Gewaltopfer.

Die Lesung des heutigen Tages wird uns vor Augen führen, dass bei unserem Gott auch über Gewalt im Nahbereich, in Familien gesprochen werden darf. Die Lesung steht nämlich in unserer Bibel - und dort gehört sie auch hin. Denn bei Gott haben diejenigen, die sonst zum Schweigen verurteilt sind, eine Stimme. Sie dürfen erzählen - und sie werden gehört. Und darum bitte ich Sie: Dass wir miteinander hören, worüber meistens geschwiegen wird. Das Zuhören ist der allererste Schritt, den wir miteinander gehen können, damit das Schweigen ein Ende hat und Menschen, die unter Gewalt und den Folgen der Gewalt leiden, Gehör finden.

II. Kyrierufe

1. Mitten unter uns leben Menschen, die Opfer von Gewalt sind.
1. Mitten unter uns leben Menschen, die Opfer von Gewalt sind.
Und sie sehnen sich doch nach Angstfreiheit und Frieden.
Deshalb rufen wir zu Dir: Herr, erbarme Dich

2. Mitten unter uns leben Menschen, die anderen Menschen Gewalt antun.
Und sie sollen doch ablassen von ihrem Tun.
Deshalb rufen wir zu Dir: Herr, erbarme Dich

3. Mitten unter uns leben Menschen, die der Gewalt gleichgültig zuschauen.
Und sie sollen doch denen helfen, die keine Hilfe finden.
Deshalb rufen wir zu Dir: Herr, erbarme Dich

III. Lesung 2 Samuel 13,1-22: Die Geschichte Tamars

Danach geschah Folgendes: Abschalom, der Sohn Davids, hatte eine schöne Schwester namens Tamar und Amnon, der Sohn Davids, verliebte sich in sie. 2 Amnon war sehr bedrückt und wurde fast krank wegen seiner Schwester Tamar; denn sie war Jungfrau und es schien Amnon unmöglich, ihr etwas anzutun. 3 Nun hatte Amnon einen Freund namens Jonadab, einen Sohn des Schima, des Bruders Davids. Jonadab war ein sehr kluger Mann. 4 Er sagte zu Amnon: Warum bist du jeden Morgen so bedrückt, Sohn des Königs? Willst du es mir nicht erzählen? Amnon antwortete ihm: Ich liebe Tamar, die Schwester meines Bruders Abschalom. 5 Da sagte Jonadab zu ihm: Leg dich ins Bett und stell dich krank! Wenn dann dein Vater kommt, um nach dir zu sehen, sag zu ihm: Lass doch meine Schwester Tamar zu mir kommen und mir etwas zu essen machen; sie soll die Krankenkost vor meinen Augen zubereiten, sodass ich zusehen und aus ihrer Hand essen kann. 6 Amnon legte sich also hin und stellte sich krank. Als der König kam, um nach ihm zu sehen, sagte Amnon zum König: Meine Schwester Tamar möge doch zu mir kommen; sie soll mir vor meinen Augen zwei Kuchen backen und ich will die Krankenkost aus ihrer Hand essen. 7 David schickte jemand ins Haus der Tamar und ließ ihr sagen: Geh doch in das Haus deines Bruders Amnon und mach ihm etwas zu essen! 8 Tamar ging in das Haus ihres Bruders Amnon, der im Bett lag. Sie nahm Teig, knetete vor seinen Augen die Kuchen und backte sie. 9 Dann nahm sie die Pfanne und schüttete sie vor ihm aus. Amnon aber wollte nichts essen, sondern sagte: Schickt alle hinaus! Als alle aus dem Zimmer hinausgegangen waren, 10 sagte Amnon zu Tamar: Bring das Essen in das Schlafgemach, ich möchte es aus deiner Hand essen. Tamar nahm die Kuchen, die sie zubereitet hatte, und brachte sie ihrem Bruder Amnon in das Gemach. 11 Als sie ihm aber die Kuchen zum Essen reichte, griff er nach ihr und sagte zu ihr: Komm, leg dich zu mir, Schwester! 12 Sie antwortete ihm: Nein, mein Bruder, entehre mich nicht! So etwas tut man in Israel nicht. Begeh keine solche Schandtat! 13 Wohin sollte ich denn in meiner Schande gehen? Du würdest als einer der niederträchtigsten Menschen in Israel dastehen. Rede doch mit dem König, er wird mich dir nicht verweigern. 14 Doch Amnon wollte nicht auf sie hören, sondern tat ihr Gewalt an und demütigte sie und schlief mit ihr. 15 Hinterher aber empfand Amnon eine sehr große Abneigung gegen sie; ja, der Hass, mit dem er sie nun hasste, war größer als die Liebe, mit der er sie geliebt hatte. Amnon sagte zu ihr: Steh auf, geh weg! 16 Sie erwiderte ihm: Nicht doch! Wenn du mich wegschickst, wäre das ein noch größeres Unrecht als das, das du mir schon angetan hast. Er aber wollte nicht auf sie hören, 17 sondern rief den jungen Mann, der in seinen Diensten stand, und sagte: Bringt dieses Mädchen da von mir weg auf die Straße hinaus und schließt die Tür hinter ihr ab! 18 Sie hatte ein Ärmelkleid an; denn solche Obergewänder trugen die Königstöchter, solange sie Jungfrauen waren. Sein Diener brachte sie hinaus und schloss die Tür hinter ihr zu. 19 Tamar aber streute sich Asche auf das Haupt und zerriss das Ärmelkleid, das sie anhatte, sie legte ihre Hand auf den Kopf und ging schreiend weg. 20 Ihr Bruder Abschalom fragte sie: War dein Bruder Amnon mit dir zusammen? Sprich nicht darüber, meine Schwester, er ist ja dein Bruder. Nimm dir die Sache nicht so zu Herzen! Von da an lebte Tamar einsam im Haus ihres Bruders Abschalom. 21 Doch der König David erfuhr von der ganzen Sache und wurde darüber sehr zornig. 22 Abschalom aber redete nicht mehr mit Amnon, weder im Guten noch im Bösen; er hasste Amnon, weil dieser seine Schwester Tamar vergewaltigt hatte.

IV. Evangelium: Lk 13, 10-17 Die Heilung der gekrümmten Frau

V.a. Predigt

Herr Jürgen Olf, Dekan von Bruchsal, katholischer Pfarrer in Weingarten/Baden
Es ist verblüffend, wie oft, wenn Jesus Kranke heilt, diese Heilungsgeschichten aufgeladen sind mit einer Symbolkraft, die ins Auge springt. - Steh auf, nimm dein Bett und geh! Ich will, sei rein! Werde sehend. Öffne Dich! Mädchen, ich sage Dir, steh auf, geh, zurück ins Leben.

Immer wieder solche Geschichten. Jesus die Menschen an, er gibt ihnen ein An-Sehen, ja, von einer Minute zur Andern sind diese Menschen in den Blick Gottes und in den Blick der Menschen geraden. Wie wichtig das für Jesus selber war, zeigt sich in seiner Antwort auf den Täufer, der aus seiner sinnlosen Kerkerhaft heraus ihn fragen läßt: "...ob Er es sei, auf den alle warten".

Er sagt ihm auf die Frage, aus der eigentlich das "Tu doch endlich was" herausschreit, nur, was alle sehen: Schau doch, was sich schon tut: "Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf, den Armen wird die Frohe Botschaft gebracht."

Dem Täufer selber hat diese Antwort nichts gebracht. Und doch haben diese Sätze, die Jesus da dem Johannes schickt, unsere Welt verändert. Denn in dieser Welt, in der es nach wie vor das Sterben gibt, Unfälle und Katastrophen, Grausamkeit und Brutalität, in dieser Welt gibt es seither eine Ant-Wort im wörtlichen Sinn, ein Gegen-Wort gegen alle Sinnlosigkeit, ein Wort, wie es einer von uns Menschen sich nicht trauen würde zu sagen, weil ich, als Zeitgenosse von Menschen, die in Verzweiflung geraten sind, denen nicht auf die Schulter klopfen kann, um ihnen womöglich zu erzählen, welchen Sinn ihr Leid vielleicht für andere hat. Ich kann das nicht und will das auch nicht. Aber es gibt für uns Menschen einen Hoffnungsanker, den darf auch ich ergreifen. Wenn Du eine womöglich unheilbare Krankheit bekommst, dann wird eine Deiner ersten Fragen sein: Gibt es irgendwo jemand, der so etwas überlebt hat? Und an dieser Frage klammert sich all Deine Hoffnung fest. Und genau hier ist für mich der Ort, wo die Heilungsgeschichten von Jesus heute hingehören, weil sie allesamt nicht nur Wunder sind, private Heilungen, sondern Handlungen mit einer Vision. Wie beispielsweise die Geschichte von der gekrümmten Frau: Die gekrümmte Frau geht ihren Weg doch durch die Jahrhunderte unserer Menschheitsgeschichte. Und Jesus hat sie aufgerichtet - und uns dies als Dauerauftrag ins Gewissen gebrannt! Er hat sich mit einer Leichtigkeit und Nonchalance aus allem wegbewegt, was zu seiner Zeit im Zusammenleben von Mann und Frau Kultur und Sitte war. Wie damals am Jakobsbrunnen auch. Jene Samariterin, jene Fremde, 7mal verheiratet, - er bittet sie um Wasser, spricht mit ihr, nicht Small Talk, nein, geballte Theologie und sie wird dadurch aufgerichte, sie läuft leichten Schrittes davon und wird, wie später die Magdalena, den andern die Botschaft bringen: "Ich habe ihn gefunden".

Für ihn, für einen einzigen wenigstens war sie nicht die Geschiedene, nicht die Frau mit Vergangenheit, sondern die 7 mal Gescheiterte, die 7 mal Enttäuschte, das Opfer, die Suchende, die Frau mit Herz, mit Leidenschaft, die Frau mit Zukunft. Es lohnte sich, mit ihr zu reden. Hier war ein Leben, in dem sich noch etwas bewegen konnte. -

Sieh mich, wie herzlich gern ich das aller Welt erzählen möchte, und denen, die ganz unten sind, zuerst?
(Jürgen Olf, Dekan von Bruchsal, katholischer Pfarrer in Weingarten/Baden)

V.b. Predigt

Frau Pfarrerin Dorothea Frank, evangelische Pfarrerin in Bad Schönborn über 2 Samuel 13, 1-22

Das Schweigen brechen. Unser Thema heute Abend in diesem Gottesdienst. Das Schweigen brechen. Das wollte auch Tamar. Sie ging zu Absalom, ihrem Bruder. Er sagt zu ihr: Schweig still. Er ist dein Bruder. Nimm dir die Sache nicht so zu Herzen. So hat man zu ihr gesagt. So sagte man zu vielen, die erlebt und erlitten haben, was Tamar erlebt und erlitten hat. Und so sagt man noch heute. Das Schlimmste war, dass ich nicht darüber reden konnte, sagt daher eine Betroffene. Tamar wird die Möglichkeit genommen, ihr Unrecht zu benennen, herauszuschreien, anzuklagen. Worte zu finden für das, was ihr angetan wurde. Sie wird zum Schweigen verurteilt. Ihre Verletzung, ihre Traurigkeit, ihr Zorn, das Unrecht, das er ihr angetan hatte: alles ihre Sache. Sie soll es für sich behalten. In sich einschließen. Und was tut es da drin?

Oft löst es neue Leiden aus. Der Körper streikt. Die Seele vertrocknet. Um Gewalterfahrung zu überwinden und Verwundungen zu heilen, müssen wir sprechen dürfen über das, was uns weh tut, sprechen über das, was uns verletzt hat. Wo das nicht geschehen darf, kann es keine Heilung geben - oder nur schwer. Darum müssen wir das Schweigen brechen. Deshalb ist es Zeit, darüber zu reden, denn auch heute noch heißt es: Das kannst du unserer Familie doch nicht antun. Das Schweigegebot blockiert… und verhindert die Heilung. Schützt den Täter. Das Schweigegebot ist so nochmals eine ganz andere, zweite Art von Gewalt. Darum ist es Zeit, darüber zu reden und sich nicht zu gewöhnen an Gewalt und an Sätze wie: das hat es schon immer gegeben. Es ist Zeit darüber zu reden und zu sagen, dass die Geschichte der Tamar in der Bibel steht. Da hat also einer - und zu dieser Zeit war es beachtenswerter Weise ein Mann - sich nicht gehalten an das Schweigegebot über solche Geschichten. Das darf uns Mut machen, das Schweigen über erfahrenes Unrecht und erlittene Gewalt zu brechen. Und auch die Geschichten der Heilungen und der neuen Anfänge zu erzählen, von denen Herr Dekan Olf sagte, wie herzlich gerne er sie aller Welt erzählt und zuerst denen, die ganz unten sind. Und es ist auch Zeit nachzudenken und zu fragen: Wo ist Gott in dieser Geschichte? Lässt er Tamar alleine? Wie kann Tamar - und Frauen wie sie - wie können sie eine neue Beziehung zu sich, zu Gott und zu den Menschen aufbauen? Fragen. Eine Antwort habe ich nicht. Eine fertige Antwort, die für alle passt, ich glaube, die gibt es nicht. Aber die Geschichte der Tamar ist eine Einladung, das Schweigen zu brechen. Sich nicht zu gewöhnen an solche und andere Gewalt.

Hellhörig zu sein und auch als nicht direkt Betroffene nicht wegzuhören, wo eine wagt, das Schweigen zu brechen. Und - vielleicht kann darin ein Beitrag der Kirchen bestehen - Räume zu schaffen, wo Vertrauen ist und Zeit, zum Zuhören, und nach Worten zu suchen. Das klingt bescheiden. Aber es ist ein Anfang. Vielleicht können uns dabei Worte wie diese Mut machen: Weil du mich niemals aufgibst, Gott, kann auch ich wieder versuchen aufzustehen, weil du dich niemals taub stellst, Gott, kann auch ich alles sagen…Es ist Zeit, das Schweigen zu brechen…Amen.

VI. Fürbitten

Guter Gott! Im Vertrauen darauf, dass Du uns hörst, wenn wir zu Dir sprechen, tragen wir unsere Bitten vor Dich:
1. Wir bitten für die Menschen in unserer Kirchengemeinde und in unserer Nachbarschaft, die körperliche, seelische oder sexuelle Gewalt erleben:
dass sie nicht daran zerbrechen, sprechen lernen und Menschen finden, die ihnen zuhören.

2. Wir bitten für jene Menschen, die von ihrer Gewalterfahrung so zerstört sind, dass sie keine Kraft mehr für die Suche nach gelingendem Leben zu haben scheinen:

3. Wir bitten für die Menschen, die in der Nähe und Nachbarschaft erleben, wie ein Mensch Opfer von Gewalt wird oder lange vorher schon wurde:
dass sie Menschen sein können, die vertrauenswürdige Ansprechpartner für Gewaltopfer sind

4. Wir bitten für diejenigen unter uns, die Angst vor Kontakten mit Gewaltopfern haben:
dass sie in der Begegnung mit diesen Menschen erleben, wie sehr diese ihre Solidarität und ihr wohlwollendes Zuhören brauchen

5. Wir bitten für diejenigen unter uns, die lieber wegschauen möchten, wenn sie Gewalt sehen: dass sie durch das Wegschauen nicht länger Täter unterstützen, sondern den Mut finden, hinzuschauen und sich schützend mit dem Opfer zu solidarisieren

6. Wir bitten für diejenigen, die Gewalt ausüben
dass sie das Zerstörerische ihres Tuns erkennen, umkehren und wieder gut machen, was gut zu machen ist.

7. Wir bitten für uns als evangelische und katholische Kirchen vor Ort
dass bei unseren Zusammenkünften eine Atmosphäre herrscht, in der Menschen, die unter die Räuber gefallen sind, erfahren dürfen, dass sie mit ihrer Not, ihren Kämpfen, aber auch ihren Siegen und ihrem Lebenswillen willkommen sind

Guter Gott, das Fortbestehen von Gewalt und ihren manchmal lebenslangen Folgen verletzt auch Dich, der Du das Heil aller Menschen willst. Bleibe bei uns, damit wir zu Menschen werden, die einander Lasten tragen helfen, damit dein Name unter den Menschen groß werden kann. Amen

(Marieluise Gallinat-Schneider)