Navigation zeigen
Navigation verbergen

Marieluise Gallinat-Schneider

Gemeindereferentin in Bruchsal

Gedenkansprachen und Reden von Marieluise Gallinat-Schneider

Gedenkansprache am Volkstrauertag, 17. November 2024, Aussegnungshalle, Friedhof Bruchsal

Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, sehr geehrte Mitglieder des Gemeinderates, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter des öffentlichen Lebens und der Bundeswehr, sehr geehrte Damen und Herren,

Dieses Jahr überkommt mich ein sehr flaues Gefühl, an diesem Volkstrauertag. Als ich das letzte Mal hier stand, um die Gedenkansprache zu halten, waren Kriege gefühlt weit weg. Und nun? Seit 3 Jahren ängstigt uns der Krieg in der Ukraine, mitten in Europa, direkt an Natogrenzen. Im Bundestag wird über Waffenlieferungen verhandelt, Verteidigungsminister Boris Pistorius redete davon, dass Deutschland kriegstüchtig werden muss.

Für mich als Pazifistin, ganz schwer auszuhaltende Überlegungen. Andererseits ist mir auch klar, dass kein Volk der Erde seine Freiheit, sein Territorium und seine Art zu leben, einfach kampflos aufgibt. Wir haben Aggressoren, ja schon Tyrannen unter den Staatschefs einiger Länder. Menschen, die keine Achtung vor Menschenleben haben und ihrem Größenwahnsinn rücksichtslos alles opfern. Ich denke, da muss doch jetzt ein Friedensschluß her, so kann es nicht weitergehen. Aber es gibt wohl keine einfachen Lösungen, es ist nicht schwarz oder weiß wie viele Menschen es gerne hätten. Ähnlich geht es mir mit dem, was im Nahen Osten passiert. Natürlich ist es für uns als Deutsche klar, dass wir uns nach der Ära des Nationalsozialismus auf Seiten Israels positionieren. Wir wissen ja, selbst die aggressive Verteidigungshaltung rührt daher, dass viele sich nach dem Holocaust nie wieder als Opfer fühlen wollen, dass viele der nachfolgenden Generationen noch schwer traumatisiert sind und das Familienerbe des Erlebens in den KZs mit sich tragen.

Dennoch machen mir die Zerstörungen im Libanon, Angriffe auf den Iran, die vielen Toten, Hungernden und verletzten Palästinenser genauso schwer zu schaffen wie Angriffe auf Israel und die Geiselnahme im vergangenen Jahr. Es fällt nicht leicht, Nachrichten schauen, die Bilder sind kaum aushaltbar. Auch hier gilt, dieser Konflikt schwelte Jahrzehnte, die Eskalationsstufen wurden immer höher, aber jetzt zu einem Ende zu kommen, scheint in weiter Ferne, es gibt keine einfachen Lösungen, nicht die klare Erkenntnis, die einen sind gut, die anderen sind böse.

Nie war die Welt einfach, auch 1919 nicht, als der Volkstrauertag ins Leben gerufen wurde, auch nicht, als er nach dem 2. Weltkrieg wieder als Gedenktag eingesetzt wurde. Von daher muss auch ich mich hier und heute nicht bemühen, Antworten zu finden.

Für mich hilft immer wieder ein Blick in die Bibel. Ich kenne viele, die sagen, das neue Testament berichtet von den guten Taten Jesu, von Nächstenliebe und der Bergpredigt, das Alte Testament dagegen berichtet von einem strafenden Gott, ist voller Kriegsberichte. Ja, im Alten Testament wird viel von Zerstörung, Vertreibung, Flucht und Kriegen erzählt, von Dingen, die zahlreiche Menschen auf der Welt jetzt aktuell leider auch erleben müssen. Aber es ist auch das Buch eines Volkes, das zwischen Großmächten aufgerieben, überfallen, angegriffen und umkämpft wird. Es berichtet von Israel, das in die Deportation muss, von der Zerstörung Jerusalems, von grausamen Taten.

Ich habe vor Jahren in einem Bibelseminar mit Frauen, die selbst Gewalterfahrungen gemacht haben, lernen müssen, dass sie das Alte Testament nicht als grausam empfinden. Für sie steht Gott klar auf der Seite der Opfer. Dieser Perspektivwechsel macht deutlich, wenn ich in Frieden lebe und es mir gut geht, interpretiere ich Texte anders als auf der Folie von Missbrauchserfahrungen, häuslicher Gewalt, Traumatisierung. Das Alte Testament ist ein Buch der Opfer, ein Buch von traumatisierten Menschen, von Menschen, die Kriegserfahrungen haben, die ihre Heimat verloren haben und auf diesem Hintergrund ihren Glauben, ihre Geschichte mit Gott suchen. In den Psalmen schreien die Beter/-innen ihre Not und Verzweiflung heraus, rufen zu Gott in ihrem Elend. Die Propheten machen auf Missstände aufmerksam, klagen die Gewalt an. Beim Propheten Habakuk lesen wir:

1 Ausspruch, den der Prophet Habakuk in einer Vision sah.  DIALOG DES PROPHETEN MIT GOTT Wie lange? – Das erste Gebet des Propheten 2 Wie lange, HERR, soll ich noch rufen / und du hörst nicht? Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt! / Aber du hilfst nicht. 3 Warum lässt du mich die Macht des Bösen sehen / und siehst der Unterdrückung zu? Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung, / erhebt sich Zwietracht und Streit. 4 Darum ist die Weisung ohne Kraft / und das Recht setzt sich nicht mehr durch. Ja, der Frevler umstellt den Gerechten / und so wird das Recht verdreht.

Wie aktuell klingt diese Klage, die auch heute noch so formuliert werden könnte. Solche Fragen stellen diejenigen, die Opfer, die Betroffene sind. In dieser Situation mag es den Wunsch nach Vergeltung geben, den Wunsch nach Rache. In der Bibel sind Texte zu finden, die über von Menschen ausgeübte Gewalt berichten – sowie von erlittener Gewalt. Aber es ist auch erkennbar, sie fordern nicht zu Gewalt auf. In solchen Texten werden wir mit unseren dunklen Seiten konfrontiert. Sie weisen uns darauf hin, dass Rachewünsche, Gewaltbereitschaft und die Fähigkeit zur Gewalttätigkeit zu uns Menschen dazugehören: So sind wir. Die Bibel hilft uns, auch die dunklen Seiten in uns wahrzunehmen und anzunehmen. Daraus kann die Bereitschaft wachsen, gewaltfrei leben zu wollen. In der Mehrzahl sind Frauen Opfer, aber in einer kleinen Minderheit Täterinnen. Das macht das, was ich gerade gesagt habe deutlich, die Opfer von Gewalt haben zwar vielleicht Rachephantasien, leben diese aber in der Regel nicht aus, sondern können gewaltfrei leben, können dies auch an ihre Kinder weitergeben, die Spirale muss nicht automatisch weitergehen. Die Opfer sind immer die Zivilisten, Frauen, Kinder, die am wenigsten dafür können, aber am meisten betroffen sind, so war es zu Zeiten der Bibel, so ist es heute. Und mein Unverständnis, dass es Politiker gibt, die dies bereitwillig einkalkulieren, um Gebietsansprüche geltend zu machen und ihre Größe feiern zu lassen, wächst täglich. Ich muss jedoch lernen, dennoch weiterzuleben, mich nicht in einen Sog von Verzweiflung und Ängsten ziehen zu lassen. Ich sehe mich in dem Spagat von Friedenswillen, Ablehnung von Gewalt, von Waffenlieferungen, die Kriege verlängern, aber auch dem Bewusstsein, dass es immer und zu allen Zeiten Kriege gegeben hat und ich mit meiner Ohnmacht und meiner Verzweiflung klar kommen muss.

Die Welt steht Kopf, vieles, was ich für unmöglich hielt, ist nun real. Wie soll ich damit umgehen? Mir fällt ein Bibelzitat aus dem Johannesevangelium ein: Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht, wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht. (Joh 14,27) Gott verspricht uns Frieden, aber einen Frieden, den die Welt nicht geben kann, daher muss unser Herz nicht verzagen, wir müssen nicht beunruhigt sein. Das ist für mich kein billiger Trost, sondern die Erkenntnis, ich kann es nicht machen! Natürlich muss ich selbst immer wieder nach Frieden streben, muss mich von denjenigen inspirieren lassen, die Gewalt nicht mit Gegengewalt beantworten, mir die zum Vorbild nehmen, die Opfer sind, aber deshalb nicht selbst zu Tätern werden. Einige von denen haben es damit sogar geschafft, in ihren Ländern Frieden herzustellen und wurden Friedensnobelpreisträger. Aber momentan scheinen viele eher die Despoten, die starken Männer zu bewundern.

Wir lesen von einer immer größeren Zahl von Menschen, die von Angststörungen betroffen sind. Ich selbst kann nur versuchen, mit meinen Ängsten, meinem Unverständnis, meinen Sorgen umzugehen und daran nicht zu verzweifeln. Wie ich eingangs schon sagte, hilft mir dabei der Blick in die Bibel: Gott steht immer auf Seiten der Opfer, an der Seite derjenigen, die Gewalt erleiden, er solidarisiert sich mit ihnen. So einen Gott an meiner Seite zu wissen, macht mich stark. Ich möchte meine Gedanken abschließen mit dem Gebet, das alle Christinnen und Christen vereint. Ich möchte es beten im Gedenken an unsere Verstorbenen und als Bitte um Frieden. Und ich lade Sie ein, wenn es Ihnen möglich ist, sich zu erheben und mit mir zu beten, wie Jesus uns zu beten gelehrt hat: Vater unser...

(Marieluise Gallinat-Schneider)