Gedenkansprachen und Reden von Marieluise Gallinat-Schneider
Gedenkansprache anlässlich des 75. Jahrestages, 20. Oktober 2015, Bahnhofsvorplatz, Bruchsal
Vertreibung der Bruchsaler Juden in das Deportationslager im südfranzösischen Gurs
"Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter seinen heiligsten Willen mit Freude entgegen. Ich bitte den Herrn, dass er mein Leben und Sterben annehmen möchte für alle Anliegen… für die Rettung Deutschlands und den Frieden der Welt..."Liebe Mitbürgerinnen und -bürger, liebe Frau Oberbürgermeisterin,
so schreibt Edith Stein die jüdische Philosophin, die später zur Ordensfrau wurde, am 9. Juni 1939 am Ende ihres Testaments. Sie ahnte bereits, was passieren wird, in einem Gedicht, das sehr stark expressionistisch angehaucht ist, dichtet sie zur gleichen Zeit:
"Es tritt der Herr die Kelter;
und rot ist sein Gewand.
Er fegt mit eisernem Besen
gewaltig über das Land.
Er kündigt im Sturmesbrausen
sein letztes Kommen an
Wir hören das mächtige Sausen
der Vater allein weiß, wann..
Ab dem 2. August 1942, dem Tag ihres Abtransports aus dem Kloster im niederländischen Echt, verliert sich ihre Spur, vermutlich starb sie kurz darauf in Auschwitz. Sie starb für ihr Volk, das Judentum. Sie war eine der großen jüdischen Philosophinnen, wie auch Hannah Arendt, die ebenso bei Heidegger studierte. Hannah Arendt hat den Holocaust überlebt, sie floh bereits 1933 aus Deutschland nach Paris, wo sie Anfang Mai 1940 nach Gurs abtransportiert wurde. Über die Beschäftigung mit ihr, hörte ich das erste Mal von diesem Lager, noch bevor es mich ins Badische verschlug. Hannah Arendt war dort, zu einem Zeitpunkt inhaftiert, bevor die Deportation fast aller Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland im Oktober 1940 erfolgte. Ihr gelang die Flucht aus Gurs und dann auch aus Europa, so dass sie überlebte. Beide Frauen Edith Stein und Hannah Arendt waren Jüdinnen und Gelehrte, das eine wie das andere in der damaligen Zeit ein Unding.
Heute, 75 Jahre nach dem Abtransport der Bruchsaler Jüdinnen und Juden nach Gurs, stehen wir hier und es gibt immer noch Frauen, die fliehen müssen oder Todesangst haben, weil man ihnen Bildung verweigert wie Malala, die für ihren Kampf um Schulbesuch von Mädchen letztes Jahr den Friedensnobelpreis erhielt und nicht mehr in Pakistan leben kann sondern mit ihrer Familie nach England in Sicherheit gebracht wurde. Ich habe letzthin von einer engagierten Ehrenamtlichen im Helferkreis der Gemeinschaftsunterkunft von einer Familie erzählt bekommen, die aus einem sicheren Herkunftsland kam und daher abgeschoben wurde, obwohl die Eltern sagen, in ihrer Heimat ist den Mädchen jede Bildungschance versagt.
Natürlich will ich diese Dinge nicht gleichsetzen mit dem Holocaust, mit den so grausamen, unsäglichen Ereignissen in Nazi-Deutschland, aber ich habe Angst vor der Stimmung mancherorts, die momentan Gedankengut offenbart, das an die dunkle Vergangenheit erinnert. Ich möchte, dass wir uns in Acht nehmen vor Ausgrenzung, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit, dass wir uns einsetzen für Menschen, die zu uns kommen, weil sie die gleichen Chancen wie wir haben möchten und in allen Menschen, egal welcher Religion und Nation Brüder und Schwestern sehen.
Schon in der Bibel schreibt uns der Apostel Paulus, selbst jüdischer Schriftgelehrter und später einer der glühendsten Anhänger Jesu und daher großes Vorbild für Edith Stein, ins Stammbuch: "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid "einer" in Christus Jesus. Wenn ihr aber zu Christus gehört, dann seid ihr Abrahams Nachkommen, Erben kraft der Verheißung." Dazu sind wir als Christinnen und Christen verpflichtet, so ist für uns die Würde eines jeden Menschen unantastbar, so berufen wir uns auf die jüdischen Wurzeln des Christentums. Daher sprechen wir uns gegen jede Form von Antisemitismus aus und setzen uns gegen jede Form von Fremdenfeindlichkeit ein.
(Marieluise Gallinat-Schneider)