< Gedenkansprachen und Reden von Marieluise Gallinat-Schneider
Navigation zeigen
Navigation verbergen

Marieluise Gallinat-Schneider

Gemeindereferentin in Bruchsal

Gedenkansprachen und Reden von Marieluise Gallinat-Schneider

Rede zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes, 28. Januar 2012, Rathaus Stutensee

Ansprache an Erika Kerstner

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitfeiernde, liebe Erika,

wir lernten uns 2002 kennen. Du warst damals frisch in unsere Pfarrei gekommen, weil Du auf der Suche nach einer für Dich passenden Gemeinde warst. Ich durfte damals noch etwas, was seit einigen Jahren nicht mehr erlaubt ist, nämlich die Ansprache in einem Jugendgottesdienst halten. Es ging um das Thema Frauen.

Das war der Anfang, das leidvolle Thema "Frauen in der Kirche". Über Frauenarbeit lernten wir uns dann etwas besser kennen und 2003 fragtest Du mich, ob ich mir vorstellen könnte, eine Gruppe von gewaltüberlebenden Frauen, die Du in Bruchsal gründen wolltest, seelsorgerlich zu begleiten. Ich habe ja gesagt, obwohl ich keine Ahnung hatte, was auf mich zukommt und ich keine Fortbildungen zu diesem Thema besucht hatte. Ich habe einfach versucht, da zu sein, Mensch zu sein, zuzuhören, mitzuleiden.

Ich habe bei Carola Moosbach, die ich so auch mit in diese Feier hineinnehmen möchte, weil sie diejenige war, die die Initiative ergriff und Erika Kerstner für das Bundesverdienstkreuz vorschlug und die nun wenigsten gedanklich dabei sein sollte, einen Text gefunden, der viel über eine solche Gruppe aussagt. Er lautet:

"Spurensuche"

(Für eine Selbsthilfegruppe)

Da sitzen wir Wunde an Wunde
Schmerz an Schmerz
da sitzen wir teilen
Hoffnung und Tränen
Wut und Kraft
da sitzen wir suchen
Wege und Spuren
verbrannte Träume
da sitzen wir finden
Leben

Soweit der Text aus dem Buch Himmelsspuren, Gebete durch Jahr und Tag

Ja, so habe ich es auch erfahren. In der Gruppe gab es Gespräche, die kaum auszuhalten waren, da gab es Trauer, Leid und Tränen, aber es gab auch ganz viel Leben. Fast jedes Mal wird auch ein Witz erzählt, es wird gelacht. Wir leiden miteinander, wir teilen Leben miteinander. Es gehört zum Leben dazu, dass Leid auszuhalten. Das zeichnet Dich, liebe Erika, aus, dass Du zu den Menschen gehörst, die es aushalten, wenn Menschen die ganz schwierigen Dinge erzählen und nicht nur die oberflächlichen.

In dieser Gruppe hast Du auch immer wieder von Deinem Engagement für die Gewaltarbeit erzählt. Das ist etwas, was Dich auch auszeichnet und weshalb ich meine, dass Du das Bundesverdienstkreuz verdient hast, Du bist beharrlich. Wenn ich jemanden etwas frage und es heißt "nein", ziehe ich mich zurück. Du hast auch nach dem zweiten, dritten, vierten, fünften Nein weitergemacht, hast Anfragen gestellt, Mails, Briefe, Gespräche, Telefonate geführt, um der Sache willen. Das bewundere ich an Dir.

Ich war neben der Begleitung der Gruppe auch dafür zuständig, Türen innerhalb der Kirche zu öffnen, damit das Thema dort präsent wird. So haben wir 2005 im Konradsblatt, unserer Kirchenzeitung, einen Artikel gehabt, in dem wir interviewt wurden, im gleichen Jahr war ich auf einer Fortbildung zum Thema "Traumaarbeit in der Seelsorge". Da hatte man das Thema eigentlich nicht eingeplant, aber ich brachte es in der Vorstellungsrunde mit ein, als ich meine Arbeit mit traumatisierten Frauen vorstellte. Ich habe dann gespürt, wie unangenehm das Thema ist, auf was ich mich da eingelassen habe, niemand will eigentlich davon hören. Egal ob Frauenreferentinnen, kirchliche Stellen für Hilfesuchende, alle waren sehr distanziert. Dennoch haben wir weitergemacht, 2006 gab es in Weingarten einen Gottesdienst, im Spätjahr ebenso einen Gottesdienst in der Lutherkirche mit Frau Dr. Barbara Haslbeck. 2007 hat der Caritasverband Bruchsal die Aktion Stolpersteine durchgeführt, im selben Jahr war Kirchentag in Köln, wo es eine Podiumsdiskussion zum Thema gab, bei der Barbara Haslbeck auch Referentin war und wir im Anschluss gute Gespräche an unserem Stand hatten.

Dann kam das Jahr 2009. Wir veranstalteten in der Pfarrei eine Aktion zu unserem Jahresthema mit dem Propheten Amos, von dem viele auch nichts hören wollten, weil er für soziale Gerechtigkeit steht. Du, liebe Erika, hast es geschafft, Dein Thema, den Mißbrauch von Frauen, mit hineinzunehmen in die Abende. Beim Abschlusswochenende sollten einige eine Bibelarbeit mit einer Stelle machen, die ihnen besonders viel bedeutet. Du hast Tamar eingebracht, die Frau, die in der Bibel als Vergewaltigungsopfer steht. Überhaupt sind es 2 Bibelstellen, die die Arbeit immer wieder begleitet haben. Tamar aus dem Alten Testament und der barmherzige Samariter aus dem Neuen Testament, der Mann, der nicht wegsieht, sich auf die Seite der Opfer stellt, sich mit ihnen solidarisiert. Dein Glaube ist das Fundament, mit dem Du es geschafft hast, diese Arbeit überhaupt zu machen.

Durch den Amosprozess habe ich bei Dir eine Veränderung gespürt. Du warst plötzlich den Kinderschuhen entwachsen und hattest Bergschuhe an, mit denen Du losstürmtest, mich nicht mehr brauchtest, um Gespräche mit offiziellen Stellen zu führen, sondern Du trautest Dich alleine, Du hattest den Mut ohne Hilfe zu diesem Thema zu stehen.

Bei der Arbeit habe ich zusätzlich auch noch mehr als vorher begriffen, wie wichtig eine sensible Sprache ist, wie wichtig es ist, keine männlich dominierte oder gewaltverherrlichende Sprechweise zu verwenden. Ausdruck davon ist auch die Tatsache, dass die Gruppe Gottessuche im Projekt zur Erstellung der Bibel in gerechter Sprache die Patenschaft für einen Teil des Buches der Psalmen übernommen hat. Als ich auf einer Fortbildung zu diesem Thema war, war ich dank dir, Erika, die Du mich von Anfang an in den Prozess der Entstehung dieser Bibel mit hineingenommen hast, eine der wenigen, die diese Bibel kannte und hatte.

Nun kam das Jahr 2010, das alles veränderte? Wirklich? Zumindest war es der katholischen Kirche klar, dass es gut ist, wenn sie Mißbrauchsopfer hört, mit ihnen redet und sie zu Wort kommen lässt. So bist Du, liebe Erika, in diesem Jahr, in dem das Ausmaß dessen, was wir, die wir schon lange auch mit Opfern kirchlicher Täter arbeiteten, ahnten, zu Tage trat, endlich eingeladen worden, endlich angefragt worden bist und Du durftest Stellung nehmen zu Deinem Thema. Ich befürchte zwar, es ist eher geschehen, weil Kirche nun auch eine gute Presse braucht und es sich nicht leisten kann, zu diesem Thema weiter zu schweigen und nicht aus ehrlichem Herzen, weil ein Veränderungsprozess im Denken entstanden ist. Aber endlich gab es nicht nur Ablehnung.

Ich wünsche Dir, dass Du weiterhin mit diesem Thema Gehör findest, dass Du weiterhin den Mut hast, für die Frauen zu kämpfen, ihnen eine Stimme zu verleihen und gratuliere Dir ganz herzlich zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes.

(Marieluise Gallinat-Schneider)