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Marieluise Gallinat-Schneider

Gemeindereferentin in Bruchsal

Gedenkansprachen und Reden von Marieluise Gallinat-Schneider

Gedenkansprache am Volkstrauertag, 13. November 2011, Aussegnungshalle, Friedhof Bruchsal

Sehr geehrte Damen und Herren,

nach dem Massensterben des ersten Weltkrieges führte man den Volkstrauertag als Gedenktag für die Toten von Kriegen und Gewaltherrschaft ein, der im zweiten Weltkrieg zum Heldengedenktag verkam und in der Nachkriegszeit bewusst wiederbelebt wurde, aber zu einem anderen Zeitpunkt im Jahreskreis, nämlich im November, dem Monat, in dem wir Christen besonders der Toten gedenken. Da hat das Thema Tod in unserer Gesellschaft plötzlich doch das Recht, angesprochen zu werden. Für viele von uns ist es sonst normalerweise weit weg, wenn wir nicht gerade einen lieben Angehörigen verloren haben.

2011 gab es in unserer globalen Welt, die durch Massenmedien immer mehr zusammengerückt ist, Ereignisse, die den Tod zu Bildern machten, die über unseren Bildschirm hinwegflimmerten.

Als das Erdbeben und die Flutwelle über Japan wegrollten, hielten auch wir den Atem an. Wie viele Menschenleben wurden darunter begraben? Und das in einem westlichen, zivilisierten Land. Wir haben als Christinnen und Christen in der Zeit vor Ostern ökumenische Mahnwachen für die Opfer von Japan abgehalten, weil es uns wichtig war, uns mit den Menschen dort zu solidarisieren und mit ihnen für ihre Toten zu beten. Erstaunlich vielen war es ein Bedürfnis, dies mit uns zu tun.

Vielleicht haben die Bilder aus Japan uns ermöglicht, wieder daran zu denken, wie schnell ein ganzes Volk in einen Schockzustand gerät. Auch der Amoklauf in Norwegen hat ein ganzes Land in Trauer versetzt. Norwegen hatte nie terroristische Attentate erlebt, bis jetzt, in diesem Jahr. Besonders schlimm für uns war dabei auch die Dimension, dass junge Menschen, Jugendliche, in der friedvollen Idylle einer Urlaubsinsel ermordet wurden.

Solche Ereignisse lassen uns erahnen wie schnell plötzlich eine ganze Nation Staatstrauer erleben kann. Gerade bei einem Massensterben können Tote oft gar nicht gefunden oder identifiziert werden. Zahlreiche Familien trauern ohne Grab, ohne konkrete Nachricht vom Tod ihrer Lieben.

Das war auch in den Kriegen so. Unzählige Soldaten waren im ersten Weltkrieg auf den französischen Schlachtfeldern umgekommen, ohne das genau klar ist, wo ihr Grab liegt und ebenso viele, wenn nicht noch mehr im zweiten Weltkrieg in den Weiten der Sowjetunion.

Das ist für die Familie das Schlimmste, die Ungewissheit, nicht zu wissen, ob ihr Angehöriger wirklich tot ist, keinen Platz zum Trauern zu haben.

Die Psychologie lehrt uns, dass Gräber für viele Menschen ganz wichtig sind. Daher haben wir von der Arbeitsgemeinschaft christlicher Gemeinden uns auch dafür eingesetzt, dass hier auf dem Friedhof ein Platz für Eltern entstand, die ihre zu früh geborenen Kinder verloren haben. Auch sie brauchen einen Ort zum Trauern, so wie jeder Mensch, wie auch die Angehörigen der zahlreichen Soldaten oder Opfer von Gewaltherrschaft.

Noch heute werden Massengräber gefunden und es wird versucht, die darin liegenden Toten zu identifizieren. In solchen Fällen kann eine Todesnachricht eine Erleichterung sein, weil sie unsere Trauer erst wirklich ermöglicht.

Auch und gerade die Bibel wusste schon, wie wichtig es ist, Tote zu begraben, es galt schon im alten Israel als Werk der Barmherzigkeit. Bis heute sind jüdische Gräber etwas, das nie zerstört werden darf. Der Verfasser des biblischen Tobitbuches lässt den Erzengel Raffael sagen:

"Es ist gut, zu beten und zu fasten, barmherzig und gerecht zu sein. Lieber wenig, aber gerecht, als viel und ungerecht. Besser, barmherzig sein, als Gold aufhäufen. Denn Barmherzigkeit rettet vor dem Tod und reinigt von jeder Sünde. Wer barmherzig und gerecht ist, wird lange leben. Wer aber sündigt, ist der Feind seines eigenen Lebens. Ich will euch nichts verheimlichen; ich habe gesagt: Es ist gut, das Geheimnis eines Königs zu wahren; die Taten Gottes aber soll man offen rühmen. Darum sollt ihr wissen: Als ihr zu Gott flehtet, du und deine Schwiegertochter Sara, da habe ich euer Gebet vor den heiligen Gott gebracht. Und ebenso bin ich in deiner Nähe gewesen, als du die Toten begraben hast. Auch als du ohne zu zögern vom Tisch aufgestanden bist und dein Essen stehengelassen hast, um einem Toten den letzten Dienst zu erweisen, blieb mir deine gute Tat nicht verborgen, sondern ich war bei dir." (Buch Tobit:12, 8-13)

So weit das Zitat aus dem Buch Tobit, aus dem 12. Kapitel, Verse 8-13. Heute stehen wir hier, um genau das zu tun, um an die unzähligen Menschen zu denken, die Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft wurden. Wir wollen den Toten die letzte Ehre erweisen. Wir wollen ihre Gräber besuchen und auch an die denken, die keines haben und an die möglicherweise auch keiner mehr denkt. Wir wollen an die denken, die nie gefunden oder identifiziert wurden. Dies ist ein Werk der Barmherzigkeit.

Natürlich stellt sich 66 Jahre nach Kriegsende die Frage, ob ein Volkstrauertag noch zeitgemäß ist. Ich meine, das Gedenken an die Toten der Kriege sollte lebendig gehalten werden. Ein Ort, an dem man sich um den Dienst an den Toten bemüht, sind die Soldatenfriedhöfe, die stete Mahnung auch an uns aus der Nachkriegsgeneration sind. Nie werde ich die Augen meiner Tochter vergessen, als wir bei einem Ausflug ins Elsaß ungeplant über den Lingekopf fuhren. Ich selbst habe noch einen Vater, der 17-jährig Soldat im zweiten Weltkrieg werden musste und der jedes Jahr am Volkstrauertag auf den Friedhof zur Gedenkveranstaltung geht und mich das Gedenken lehrte. Dort im Elsaß, wo Soldatenfriedhof und Museum das Grauen anschaulich machen, habe ich einmal wieder erfahren, wie wichtig es ist, das Gedenken an die nächste Generation weiterzugeben. Friedhöfe sind ein Mahnmal für unsere Toten, aber auch für uns Lebende.

Bald wird von den Zeitzeugen niemand mehr da sein, dann liegt es an uns, ob wir weiter eine Form des Gedenkens finden wollen und sollen. Stille Tage des Gedenkens sind nicht mehr populär in unserer Gesellschaft. Bezeichnend dafür ist schon die Diskussion in diesem Jahr um den Karfreitag und seinen Charakter als stiller Tag. Aber den Ruf der Mahnung durch unsere Toten hören wir nicht im Trubel und Lärm. Japan und Norwegen haben dieses Jahr erlebt, wie es ist, wenn plötzlich die Welt still steht und den Atem anhält. Sie hatten Zeiten der Staatstrauer. Vielleicht ist es da gut, dann zu wissen, dass auch die anderen sich solidarisieren, mittrauern, an die Toten denken und nicht in die Discothek gehen. Vielleicht dringt uns durch solche Ereignisse die Barmherzigkeit gegenüber den Toten wieder neu ins Bewusstsein.

Georg Kafka, ein Verwandter von Franz Kafka, schrieb 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt in seinem Totengebet:

Sieh, Herr, die Toten kommen zu Dir.
Die wir geliebt, sind allein
Und sehr weit
Nun müssen wir ihre Münder sein
Und beten zu Dir,
Du Ewigkeit.
Wir aber leben und dürfen nicht
Die Tage versäumen.
Wir tragen geduldig das schwere Gewicht
Zu Deinen Träumen.
Oh Herr, die Lebenden kommen zu Dir.
Die wir geliebt, sind allein.
Wir finden sie nicht.
Du aber wirst die Erleuchtung sein.
Du Licht.

So weit ein Auszug aus dem Gedicht. Ja, wir müssen die Münder der Toten sein, wir müssen für die, die wir nicht mehr finden, ein Sprachrohr sein, durch unser Gedenken, durch unsere Gebete müssen wir die am Leben erhalten, an die sonst niemand mehr denkt. Dieses Gebet aus Theresienstadt gemahnt uns zusätzlich, an die vielen Juden zu denken, die in den Konzentrationslagern umkamen und zu Asche wurden, die verwehte. Für sie gab es kein Grab, zum Teil auch kein Gedenken, weil niemand von der Familie mehr da war, der sie liebte und um sie trauerte. Nie mehr darf so etwas in Deutschland geschehen. Daher verbinden wir mit dem Gedenken an die Toten die Mahnung zu Friedfertigkeit, die Mahnung, alles dafür zu tun, dass Krieg und Gewaltherrschaft bei uns keinen Platz haben.

Ich stehe vor Ihnen als Vertreterin der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen hier in Bruchsal. Meine Form, der Toten zu gedenken, ist daher das Gebet. Ich bitte Gott für all die Menschen, für die sonst niemand bittet. Ich bitte Gott auch darum, den Menschen in unserem Land die Einsicht zu geben, Krieg und Gewalt zu verhindern und Konflikte friedlich zu lösen. Ich möchte meine Gedanken abschließen mit dem Gebet, das alle Christinnen und Christen vereint. Ich möchte es beten im Gedenken an unsere Verstorbenen. Und ich lade Sie ein, wenn es Ihnen möglich ist, mit mir zu beten, wie Jesus uns zu beten gelehrt hat:

(Marieluise Gallinat-Schneider)