... auf der Spur Jesu

Dokumentation eines gemeinsamen Weges


Predigt beim 5. Treffen

am 21. März 2013 in St. Anton

"... und nach diesem Gesetz muss er sterben" - warum er sterben musste

Ich halte das für die genialste Fuge der Kunstgeschichte. An genau dieser Stelle fügen sich zwei Flügel zusammen und bilden mit ihren Rückseiten eine neue Tafel, jene Tafel, auf die Meister Mathis zu Beginn des 16. Jahrhunderts das vielleicht ausdrucksvollste Bild der Kreuzigung gemalt hat, das je von Menschen geschaffen worden ist.

Die Bildtafel mit der Isenheimer Kreuzigung wird ja von den Rückseiten zweier zusammengeklappter Altarflügel gebildet. Und genau dort, wo sich beide zusammenfügen, ergibt sich notwendigerweise ein kleiner Spalt. Und dieser Spalt durchschneidet konstruktionsbedingt - und damit recht willkürlich - das Gemälde in zwei Teile.

Dass er aber genau an dieser Stelle, die Sie auf dem Liedblatt des heutigen Abends abgedruckt finden, die Kreuzesinschrift zerschneidet, das ist nicht willkürlich, nicht zufällig sondern höchst durchdacht.

Liebe Schwestern und Brüder,

diese Kreuzesinschrift beinhaltet ja das Todesurteil. Auf dieser Tafel wurde, gemäß der Überlieferung der Evangelien, der Grund für Jesu Verurteilung angegeben. Hier steht, warum Jesus sterben musste.

Aber warum musste er? Was war der Grund für seinen Tod? Weshalb musste Jesus sterben? Weil Gott es so gewollt hatte? Sie kennen den Satz: "Er war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz." (Phil 2,8). Hat Gott von diesem Jesus verlangt, am Kreuz zu sterben?

Ein klares "Ja" hören wir auf diese Frage immer wieder aus der Geschichte der Theologie. Gott Sohn hat sich selbst am Kreuz dem Vater zum Opfer angeboten, um für die Sünden der Menschen zu büßen.

Und er musste es tun, weil es anders nicht gegangen wäre. Die Schuld der Menschen sei insgesamt so übergroß geworden, dass kein anderes Opfer zur Versöhnung mit Gott ausreichend gewesen wäre.

Anselm von Canterbury war es, der dies im 12. Jahrhundert am prägnantesten formulierte: Kein Mensch sei aufgrund seiner Schuldbeladenheit in der Lage gewesen, die Gesamtheit des Vergehens der Menschheit Gott gegenüber auszugleichen.

Aber genau das musste Gott fordern, weil genau das die Gerechtigkeit verlange.

Bei Anselm muss man sich das wie bei einer Waagschale vorstellen: auf der einen Seite liegt die Summe aller Vergehen und zieht die Schale nach unten und auf die andere muss nun die entsprechende Sühne, die aber die ganze, in ihre Schuld verstrickte Menschheit nicht mehr zu leisten in der Lage gewesen war. Dementsprechend sei Gott gar nichts anderes mehr übriggeblieben, als die ganze Menschheit rundweg zu verdammen - oder aber selbst in die Bresche zu springen; und das bedeutete: sich selbst, beziehungsweise den göttlichen Logos, den menschgewordenen Sohn, stellvertretend für die Menschheit in die Waagschale zu werfen: Höchster Ausdruck der Barmherzigkeit. Größter Beweis der Liebe Gottes zu uns Menschen.

Was für ein Gott! Oder viel eher: Was ist das für ein Gott?

Ist das unser Gott? Ein Gott, der so gefangen ist in einem System von ausgleichender Gerechtigkeit, dass ihm selbst nichts anderes übrig bleibt, als dieses blutrünstige Opfer? Ein Gott, der sich in solch eine Gerechtigkeitsvorstellung so verstrickt, dass er am Ende gar nicht mehr anders kann?

Als Katholik bin ich Gott froh, dass offenbar der Geist selbst dafür gesorgt hat, dass diese Lehre Anselms von Canterbury, obwohl sie durch die ganze mittelalterliche Theologie geisterte, weder Einzug in die Dokumente des ersten vatikanischen Konzils noch in die Konstitutionen des zweiten Vatikanums gefunden hat - und das obwohl die Formulierungen in den entsprechenden Entwürfen offenbar bereits vorbereitetet waren. Ein Gott, der nur auf diese Weise besänftigt werden kann, den will ich mir einfach nicht vorstellen müssen.

Aber will ich mich da vielleicht nicht einfach vor etwas drücken, was doch ganz zentral zu unseren Glauben gehört? In der Schrift selbst finden sich doch genügend Hinweise dafür, dass Jesus geopfert wurde, als Opferlamm für uns dargebracht worden ist: von der Ankündigung Johannes des Täufers, dass dieser Jesus das Lamm Gottes sei, das die Sünde der Welt hinwegnimmt, bis hin zum Passionsbericht im Johannesevangelium.

Dort zielt ja alles darauf ab, diesen Jesus uns als das Pessach-Lamm vor Augen zu führen. In diesem Evangelium wird ja deshalb sogar die zeitliche Abfolge der Tage anders geschildert.

Während in den ersten drei Evangelien Jesus mit seinen Jüngern das Pessachmahl feiert und dann verhaftet und am darauffolgenden Pessachtag hingerichtet wird, wird im Johannesevangelium alles einen Tag vorverlegt. Er hält dort mit seinen Jüngern einfach ein Mahl, wird danach verhaftet und am Tag vor dem Pessach hingerichtet, genau zu der Stunde, in der man im Tempel die Lämmer schlachtet - jene Lämmer, die dann zum Mahl verzehrt werden; was nichts anderes sagen will, als dass Jesus genau dieses wahre Pessach-Lamm ist, das Lamm Gottes, am Stamm des Kreuzes geschlachtet.

Ja, dass Jesus sein Leben für uns als Sühneopfer hingegeben hat, das ist eine der ältesten Folien auf deren Hintergrund das Leiden Christi gedeutet wird.

Paulus spricht im Römerbrief davon, dass Gott den Christus als "hilasterion" - als Sühneort - aufgestellt habe, und er knüpft damit an den Tempel und an altisraelistische Tradition an - wie etwa an den Ritus vom Sündenbock.

Christus hat sich zum Sündenbock gemacht, wie jener Bock, der seit der Frühzeit Israels am Versöhnungstag in die Wüste gejagt wurde. Zuvor aber hatte man ihm die Hände aufgelegt und damit symbolisch alle Sünden auf diesen Bock übertragen. Und die Schuld des Volkes nahm der Bock nun mit in die Wüste und mit ihm sollte sie dort unwiederbringlich zugrunde gehen.

All diese vorläufigen und immer nur unvollkommenen Versuche der Menschen, mit Gott ins Reine zu kommen, sind nun ein für alle mal abgelöst, denn Jesus Christus macht sich für uns zum Sündenbock, zum Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt, ein für alle Mal von uns nimmt.

Für Paulus und das Neue Testament ist dies die zentrale Botschaft unserer Erlösung, auch wenn diese Worte und diese Ausdrucksweise in unseren Ohren heute sehr fremd und vor allem auch eigenartig klingen.

Sie klingen aber nur so, wenn man in dieser sehr abstrakten und ausgesprochen formalhaften Sprache und Denkweise bleibt. Man kann dies aber auch anders sagen, und das, ohne dass damit gleich der ganze Glaube zusammenbrechen würde, wie manche an dieser Stelle immer gleich befürchten.

Jesus Christus ist der Erlöser, er gibt - wie er selbst sagt -, als der gute Hirte sein Leben für seine Freunde. Und genau hier in diesem Wort, liegt für mich der Schlüssel, um dieses Geheimnis für mich heute verständlich zu machen, diese Botschaft heute zu hören und heute zu verstehen. Jesus Christus gibt sein Leben - sein Leben!

Es geht um das Leben, nicht um den Tod.

Nicht dass Jesus gestorben ist, ist das eigentlich Entscheidende, entscheidend ist, dass er gelebt hat.

Es geht nicht um ein Opfer, es geht darum, dass er gelebt hat und dieses Leben für uns gelebt, für uns hingegeben hat.

Wer den Karfreitag für sich allein betrachtet, wer nur auf die Kreuzigung, nur auf den Tod schaut, der wird diesem Jesus nicht gerecht und der erfasst auch nicht, was er wirklich für uns getan hat.

Entscheidend war nicht sein Sterben. Entscheidend war sein Leben. Denn in Jesus Christus ist uns Gott auf Augenhöhe entgegenkommen, hat er uns gleichsam an die Hand genommen und uns dabei vorgelebt, wie man leben kann ohne Gewalt, ohne Allmachtsphantasien, ohne die Ellbogen auszupacken und nur darauf zu schielen, wie man den einen übers Ohr hauen und die andere übervorteilen kann. Hier hat uns einer vorgelebt, dass man der Spirale der Gewalt ein Ende setzen und die Teufelskreise durchbrechen kann. Und dass unsere Welt nur dann eine Zukunft hat, wenn wir alle endlich damit ernst machen, wenn wir selbst damit anfangen und endlich einer den Anfang macht. Er hat das getan, konsequent, wohlwissend, dass man auf diesem Weg unter uns Menschen fast zwangsläufig unter die Räder kommt. Und er hat dabei klar gemacht, dass man diesen Weg trotzdem gehen kann, weil Misserfolg keine Kategorie ist, die wirklich Bestand haben wird, weil, in den Augen der Welt zu scheitern, letztlich noch gar nichts bedeutet und selbst die Vernichtung, selbst der Tod, das grausame Todesurteil, nicht das letzte Wort hat.

Genau dieses Todesurteil aber, das hat Gott nicht gesprochen! Und das ist für mich nicht unwesentlich. Gesprochen haben dieses Todesurteil die Menschen.

Und Meister Mathis auf den Tafeln des Isenheimer Altares macht dies sehr eindrücklich deutlich. Das Urteil ist nicht direkt auf die Holztafel geschrieben. Der Richterspruch findet sich, wie Menschen das zu tun pflegen, auf einer Urkunde, auf einem Stück Papier.

Er steht dort auch nicht, wie es die biblische Überlieferung schildert auf Griechisch und Hebräisch, ist nicht einmal mit lateinischen Buchstaben verfasst. Meister Mathis verwendet gotische Schriftzeichen, die Schriftzeichen seiner Zeit. Und er macht dadurch deutlich, dass es sich nicht um eine Geschichte aus längst vergangenen Tagen handelt. Das hier geschilderte Geschehen ist zeitlos und reicht hinein bis in meine Gegenwart. Denn dieser Jesus würde heute nicht minder anecken und zurückgewiesen werden, ganz besonders von denen, die sich selbst für die Frömmsten halten.

Sie haben damals seinen Tod beschlossen, die politische Macht hat das Urteil verhängt und jetzt ist es an diese Tafel geheftet worden: mit Siegellack! Der Tod ist beschlossene Sache, das Urteil ist besiegelt. Nicht von Gott - von uns Menschen. Denn nicht Gott, uns hat sich dieser Jesus geopfert. Und dies ein für alle Mal.

Das müssen vor allem wir Katholiken uns immer wieder vor Augen führen, weil unsere Praxis, vor allem dann, wenn wir von Messopfer und Opferung sprechen, nicht selten zu Missverständnissen geradezu einlädt. Was Jesus getan hat ist einmalig und es braucht keinerlei Wiederholung, denn er hat ein für alle Mal alles getan, was notwendig war.

Wenn wir miteinander das Brot brechen, dann machen wir uns lediglich klar, dass dieses konkret historische Geschehen von damals nicht etwas ist, was sich in längst vergangener Zeit abgespielt hat und nichts mehr mit uns zu tun hätte. Das was Jesus ein für alle Mal vor vielen Jahrhunderten getan hat ist zeitlos gegenwärtig. Nichts anderes feiern wir in unseren Messen.

Wenn der Eindruck entstünde, als würde in der Messfeier irgend ein neues Opfer dargebracht, als würde irgendetwas von uns Menschen herbeigeführt oder als müsste das Heil gleichsam jeden Tag erst wieder neu erwirkt werden, dann ist das falsch und von keiner Theologie gedeckt.

Gott hat alles für uns schon längst getan.

Und der Maler des Isenheimer Altares verdeutlicht dies auf unnachahmliche Weise: Nachdem die Menschen, Jesus getötet hatten ist für Menschen eigentlich auch alles aus.

Nach menschlichem Ermessen, nach unserer Logik unseren Vorstellungen von Macht und Ohnmacht, war die Sache dieses Jesus von Nazareth jetzt endgültig vorüber. Gleichsam mit Brief und Siegel hatten es die Menschen beschlossen und jetzt war er tot.

Schauen Sie sich aber diese Fuge einmal genauer an, diesen Spalt, den der Künstler hier zu einem der sprechendsten Details des ganzen Bildes macht. Wenn Sie den Altar jetzt öffnen, die beiden Flügel auseinanderklappen, dann wird das Siegel gebrochen. Das Siegel wird gebrochen!

Nichts gilt mehr! All unsere irdischen Vorstellungen werden gleichsam auf den Kopf gestellt. Nicht einmal das Endgültige, nicht einmal der Tod, hat noch Geltung. Wenn die Flügel des Isenheimer Altares auseinandergeklappt wurden, erschien auf der Rückseite der Kreuzigungstafel - auf der Rückseite des Gekreuzigten - das Bild der Auferstehung.

Menschen dachten es zum Bösen, Menschen beschlossen den Tod. Gott hat den Tod aber durchbrochen, er dachte es zum Guten; denn er will das Leben, nicht den Tod, auch nicht den Tod des Sohnes.

Den haben die Menschen beschlossen. Gott brauchte das Sterben nicht, letztlich gebrauchte er es. Es war vielleicht unumgänglich, folgerichtig, weil Menschen offenbar so sind, wie Menschen eben immer schon waren. Vielleicht war das Sterben Christi deshalb sogar notwendig. Not wendend war es alle Mal.

Es hat unsere Not gewendet. Denn nicht nur auf dem Altar des Meister Mathis erscheint als Kehrseite des Gekreuzigten der Auferstandene. Tod und Auferstehung sind für uns Christen jetzt ganz real wie die beiden Seiten einer Medaille geworden.

Denn jetzt ist offenkundig, was Menschen seit Urzeiten möglicherweise erahnten, was seit Ostern aber verbürgt ist: Gott ist ein Gott des Lebens und nicht des Todes und er will das Leben - auch das unsere; und er will, dass wir es in Fülle haben.

Dieses Leben leuchtet bereits jetzt auf. Denn durch Jesus Christus, durch sein Sterben und sein Auferstehen, durch ihn leuchtet dieses neue Leben schon durch den Tod hindurch. Durch Jesus Christus leuchtet das Leben auch schon durch unseren Tod.

Amen.

(Jörg Sieger)