Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


Zurück-Button Die Hirten auf dem Feld - oder: - Wenn aus Schafen Schweine werden

"In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat der Engel des Herrn zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt. Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade."
(Lukas 2,8-14)

Diese Stelle aus der Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums bildet den biblischen Hintergrund für die Darstellung, die sich in der Ferne - rechts neben dem Kopf Marias erkennbar - abzeichnet. Hier ist augenscheinlich der Engel, der den Hirten die Geburt des Kindes verkündet, dargestellt.

Die Engel bei den Hirten

Genau betrachtet weist die Szene allerdings einige Rätsel auf:

Es ist weder ein Engel noch ein ganzes englisches Heer - es sind zwei Engel, die Meister Mathis hier abbildet. Einer ist hell gehalten, der andere dunkel. Einer trägt jugendliche Züge, der andere ist bärtig - in der christlichen Kunst eine äußerst ungewöhnliche Darstellung.

Wenn diese Szene überhaupt einmal zu deuten versucht wird, dann interpretiert man meist folgendermaßen: Aus dem Altersunterschied und den unterschiedlichen Richtungen, in die beide Engel zu fliegen scheinen, meint man herauslesen zu können, dass der "junge" Engel für den Neuen Bund stehe, während der dunkle, der "ältere" Engel den Alten Bund symbolisiere. Seine Zeit sei vorüber. Er ist bereits im Abflug begriffen. Die Zeit des neuen Bundes, des jungen Engels, der nun vom Vater herabgesandt worden ist, breche nun an.

Reiner Marquard deutet die Darstellung anders. Das Gesicht des bärtigen Engels erinnert ihn daran, wie Meister Mathis auf seinen Altartafeln in aller Regel Gott Vater aussehen lässt. Das Gesicht, das Meister Mathis diesem Engel gibt, entspreche dem Antlitz Gottes auf den Tafeln des Isenheimer Altares: langes Haar und Bart. Es seien die Züge Gottes, die dieser Engel hier annimmt, so

"... als ob dieser Engel in seiner Person die Alltäglichkeit Gottes an sich selbst als Zeugnis für die Hirten demonstrieren muß." ⋅1⋅

Am weitesten geht wieder die Deutung Emil Spaths. Hinter dieser Weihnachtsszene sieht er wiederum eine Botschaft nicht minder für die Kranken des Spitals als auch für die Antoniter und das Pflegepersonal, die tagtäglich mit dem Sterben und dem Tod konfrontiert waren. Die untere der beiden Hirtengestalten zeigt nämlich Symptome eines am Ergotismus Erkrankten. Nach Spath seien schon die Beine "mutterkornkramphig verrenkt". Deutlich zu sehen ist auf jeden Fall, dass die Hand am sich nach oben reckenden Arm verstümmelt ist. Gilt diesem unheilbar Kranken die Geste des dunklen, bärtigen Engels? Bedeutet sie gleichsam: "Komm, ich bringe dich heim in Abrahams Schoß"?

Der zweite Engel scheint sich an die andere Gestalt zu richten. Ist das derjenige, dessen Lebensweg wieder hinaus führt? Emil Spath deutet die Geste des "morgenrotfarbenen" Engels im Sinne von: "Geh deinen Pilger-Weg weiter - wie lang er auch sei -, und gib mir die Hand, ich führe dich heimwärts." ⋅2⋅

Egal ob der Mensch kurz vor dem Tod steht, ob es keinen Weg mehr am Sterben vorbei gibt oder ob mein Lebensweg  noch einmal - oder auch immer wieder - hinaus ins Weite führt, Gottes Menschwerdung hat sowohl das Leben als auch das Sterben verwandelt. Beides ist Weg in die eigentliche Heimat.

"Der Abstieg des Sohnes Gottes in das armselige Menschsein hat den Himmel zu öffnen begonnen - für die Heimholung der Welt." ⋅3⋅

Detail des Isenheimer Altares

Gott Vater auf dem Bild der
"Leiden des Heiligen Antonius".

Detail des Isenheimer Altares

Gott Vater auf der
"Menschwerdungstafel".

Die Schweineherde

Gemäß biblischem Bericht hielten die Hirten "Nachtwache bei ihrer Herde" (vgl. Lukas 2,8-14 auf dieser Seite ). Diese Herde ist bei genauem Hinsehen auch auf dem Isenheimer "Weihnachtsbild" zu entdecken. An der Kammlinie des Berges, links vom Kopf der Maria und über dem Kind sind die Tiere auszumachen.

Es sind aber keine Schafe, die Meister Mathis hier malt. Es sind Schweine. Für biblische Verhältnisse wäre dies eine Ungeheuerlichkeit. Schweine sind für Israel unreine Tiere. In einem Antoniterkloster aber ist eine Schweineherde eine ganz eigene Anspielung. Die sogenannte "Antoniussau" diente ja zur Bezahlung der Antoniter für ihren Dienst an den Kranken und wurde von daher selbst zum Attribut, zum begleitenden Symbol der Darstellungen des Heiligen Antonius.

Nichtsdestoweniger ist es einzigartig, was Meister Mathis hier wagt, nämlich eine Reihe von Schweinen dem Christuskind gleichsam an die Aureole zu malen. Als ob er damit sagen wollte, dass der Dreck, der Gestank aber auch die Schreie, die Not und die Hoffnung der Kranken dieses Kind nicht unberührt lassen. ⋅4⋅

Emil Spath erinnert zudem an den biblischen Bericht über die Heilung des "Besessenen von Gerasa". Im Markusevangelium findet sich folgender Text:

"Sie kamen an das andere Ufer des Sees, in das Gebiet von Gerasa. Als [Jesus] aus dem Boot stieg, lief ihm ein Mann entgegen, der von einem unreinen Geist besessen war. Er kam von den Grabhöhlen, in denen er lebte. Man konnte ihn nicht bändigen, nicht einmal mit Fesseln. (... Als er Jesus von weitem sah, lief er zu ihm hin, warf sich vor ihm nieder und schrie laut: Was habe ich mit dir zu tun, Jesus, Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott, quäle mich nicht! Jesus hatte nämlich zu ihm gesagt: Verlass diesen Mann, du unreiner Geist! Jesus fragte ihn: Wie heißt du? Er antwortete: Mein Name ist Legion; denn wir sind viele. Und er flehte Jesus an, sie nicht aus dieser Gegend zu verbannen. Nun weidete dort an einem Berghang gerade eine große Schweineherde. Da baten ihn die Dämonen: Lass uns doch in die Schweine hineinfahren! Jesus erlaubte es ihnen. Darauf verließen die unreinen Geister den Menschen und fuhren in die Schweine, und die Herde stürzte sich den Abhang hinab in den See. Es waren etwa zweitausend Tiere, und alle ertranken. Die Hirten flohen und erzählten alles in der Stadt und in den Dörfern. Darauf eilten die Leute herbei, um zu sehen, was geschehen war. Sie kamen zu Jesus und sahen bei ihm den Mann, der von der Legion Dämonen besessen gewesen war. Er saß ordentlich gekleidet da und war wieder bei Verstand. Da fürchteten sie sich. Die, die alles gesehen hatten, berichteten ihnen, was mit dem Besessenen und mit den Schweinen geschehen war."
(Markus 5,1-16)

Die die Kammlinie des Berges herabstürzenden Schweine erinnern an diesen Heilungsbericht der Bibel. Kaum ist der Messias erschienen, scheucht er alle bösen Geister - will sagen: alle menschen- und gottwidrigen Mächte - auf. Alles, was den Menschen gefangen hält muss auf Dauer weichen. Auch wenn es augenblicklich noch nicht so aussieht: Gottes Heil wird sich durchsetzen. Es hat sogar schon - kaum zu sehen und für die meisten unmerklich - begonnen. Mit diesem Kind ist das Reich Gottes - Gottes Macht und sein Heil - bereits angebrochen. ⋅5⋅

Detail des Isenheimer Altares

Die Schweineherde.

Zurück-Button Literaturhinweise

Vergleiche vor allem:
Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar - Erläuterungen, Erwägungen, Deutungen (Stuttgart 1996) 58,
Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 49, 53, 114-115.

Anmerkungen

1 Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar - Erläuterungen, Erwägungen, Deutungen (Stuttgart 1996) 58. Zur Anmerkung Button

2 Vgl.: Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 56. Zur Anmerkung Button

3 Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 56. Zur Anmerkung Button

4 Vgl.: Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar - Erläuterungen, Erwägungen, Deutungen (Stuttgart 1996) 58. Zur Anmerkung Button

5 Vgl.: Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 119. Zur Anmerkung Button